Der im vergangenen Jahr gestorbene Jean Giraud hat unter dem Pseudonym Moebius fantastische Welten erschaffen. Der Ludwigsburger Cross Cult Verlag bringt sein Werk in sieben Bänden jetzt neu heraus.

Ludwigsburg - Resümee der vorangegangen Kapitel: In der hermetischen Garage kann immer noch alles passieren.“ So beginnt die dritte Episode eines Comics von 1976, in dem sich der mit Kolonialuniform samt Pickelhaube ausstaffierte Major Grubert durch mehrere Ebenen eines Fantasy-Universums bewegt, um . . . Ja, um was zu tun in diesen merkwürdigen Welten, in denen Oldtimer-Autos durch weite Wüstenlandschaften brausen, Bogenschützen U-Boote abschießen und der Held im labyrinthischen Untergrund einer futuristischen Stadt das „geheimnisvolle“ Hotelzimmer 6 zugewiesen bekommt?

 

Nun, so genau weiß das wohl nicht einmal Gruberts Schöpfer Jean Giraud, der unter dem Kürzel Gir stringente und spannende „Blueberry“-Western-Comics pinselt, in den siebziger Jahren aber beginnt, sich unter dem Pseudonym Moebius immer wieder den künstlerischen und kommerziellen Zwängen des Mediums zu entziehen. Dass Giraud sich für diese anderen, experimentellen und mit der Feder gezeichneten Comics, die er auch in seiner eigenen Zeitschrift „Métal hurlant“ veröffentlicht, den Namen jenes Mathematikers wählt, nach dem das unendliche Möbius-Band benannt ist, dürfte kein Zufall sein: Auch seine freien, assoziativen und an das „automatische Schreiben“ des Surrealismus erinnernden Geschichten könnten, selbst wenn mal das Wort „Ende“ dasteht, im Grunde immer weitergehen.

Der Ludwigsburger Cross Cult Verlag hat die Moebius-Comics des im vergangenen Jahr gestorbenen Jean Giraud nun in einer siebenbändigen Hardcover-Neuausgabe herausgebracht. Im Vorwort der „Hermetischen Garage“, die so etwas wie den Kern im ebenso auswuchernden wie stilprägenden Moebius-Werk bildet, beschreibt der Autor den Entstehungsprozess: „Zur damaligen Zeit befand ich mich häufig in etwas euphorischen Zuständen . . . Spät in der Nacht kehrte ich schnellstens nach Hause zurück, um eine, manchmal zwei Seiten zu zeichnen, bis ich vor Erschöpfung zusammenbrach.“ Es sei alles nur gedacht gewesen als eine „grafische Spielerei, ein Witz, eine Mystifikation, die zu nichts führen konnte und sollte“. Und es wurde eben doch mehr und immer mehr.

Keine Psychologie, keine Soziologie

In diesem mit höchster grafischer Kompetenz komponierten Werk darf man allerdings keine Psychologie, keine Soziologie erwarten, auch keine großen Spannungsbögen oder überhaupt irgendeine Art von Kontinuität. „Die Erzählungen von Moebius leben von der ständigen Verwandlung, der Diskontinuität und den Sprüngen“, hat schon früh Helmut Heißenbüttel erkannt. Bereits im ersten Moebius-Band „Arzach“ von 1975 wechselt der Name des etwas mürrisch auf einem Flugdrachen dahinsegelnden Titelhelden über Harzak, Harzack und Arzack zu Harzackc. In anderen Geschichten ändert sich bei den Protagonisten von einem Panel zum anderen die Farbe der Kleidung. Überhaupt geht es in diesen zitatenprallen Comics mit ihren abrupten Raum-Zeit-Wechseln doch sehr durcheinander. „Ich liebe Abschweifungen“, sagt Moebius. Könnte man nicht sogar sein ganzes Werk als große Abschweifung bezeichnen?

Es herrscht immerzu Karneval

Die Willkür der Fantasy aber wird bei Moebius absichtlich ausgestellt und so fröhlich übertrieben, dass in seinen Erzählungen immer auch die Parodie des Genres steckt. Und doch lassen sie sich nicht auf die Parodie reduzieren. Für Giraud selber eröffnet sich durch sein Alter Ego Moebius die Möglichkeit, seine „essenziellen Ängste zu verarbeiten“. Er schreibt und zeichnet oft in einem trancehaften Zustand, lässt dabei auch Drogenerfahrungen einfließen – in seiner Jugend hat er einige Jahre in Mexiko gelebt –, und wenn man seine Comics durchblättert, spürt man, dass er seine wild wuchernden Welten mit ihren abenteuerlichen Metamorphosen nicht nur erfindet, sondern auch ein bisschen an sie glaubt. „Wenn ich zeichne, projiziere ich mich ganz in die Situation hinein“, hat Moebius erklärt. Auf Fotos und Filmen sieht man ihn extrem vorgebeugt, den Kopf dicht überm Papier, so als wolle er in das Blatt hineinkriechen. Tatsächlich hat er sich in seine Bilder auch immer wieder hineingezeichnet.

Die eine Welt ist für Moebius nicht alles, und sie ist ihm vor allem nicht genug. Er glaubt an esoterische Bewusstseinserweiterungen und Grenzüberschreitungen, er schließt sich in den Achtzigern mit seiner Familie ein paar Jahre einer aliengläubigen Sektengemeinschaft auf Tahiti an. Auch in seinen Erzählungen wimmelt es von Göttern und Magiern, von Raum-Zeit-Sprüngen, von der Suche nach der Unsterblichkeit. Und doch zieht sich durch Moebius-Werke weiter etwas Leichtes und Spielerisches. Das ganz und gar Ernste, das endgültig Tragische gar findet  in diesen Bildern selbst dann keinen rechten Halt, wenn sie mal, so wie in dem Band „The long Tomorrow“, auf „schweren“ literarischen Vorlagen basieren.

Der Leser kann sich treiben lassen

Ein wenig liegt das wohl auch an Moebius’ Vorliebe für Kostüme und Verkleidungen. Diese gemusterten Westen und Spitzenkrägen! Diese Operettenuniformen und Retrohelme! Diese Harlekin-Anzüge und Chinesenhüte! In seinen Comics herrscht, so wie bei Moebius’ großem und oft zitiertem Vorbild „Little Nemo“, sozusagen immerwährender Karneval. Und ein weiterer Bezug zu Winsor McCays Klassiker tut sich auf: Der kleine Nemo erträumt sich sein oft ins Absurde reichendes Schlummerland selber, bei Moebius darf man zumindest von traumhaften – und nach eigener Aussage oft aus Träumen übernommenen! – Welten sprechen. Vielleicht sind es nicht die besseren als die real existierenden, die schöneren sind es allemal.

Durch diese Welten kann man sich als Leser unendlich treiben lassen, vielleicht auch sich ins Unendliche treiben lassen. Noch besser: Man kann durch diese Welten fliegen! Moebius nimmt nämlich immer wieder die Perspektive des Schwebenden ein, manchmal ordnet er sie nostalgischen Luftgefährten zu, manchmal aber fliegen seine Helden ganz ohne technische Hilfe herum. Das sind dann Bilder, die Erinnerungen an die Kindheit in sich bergen. An jene Zeit, als wir heimlich mit den Armen geschlagen haben, so als wären diese Flügel, an jene Zeit also, als wir noch hofften, wir könnten wirklich mal abheben ins große Abenteuer.