Ansonsten unterscheiden sie sich nicht von anderen Exemplaren, die man im Talkessel vernimmt. Mindestens zehn Kirchtürme sind zu sehen und zu hören. Von der Stiftskirche her verkünden elf Glocken die volle Stunde, den Gottesdienstbeginn oder die Abendzeit. Gut gestimmt fallen die von St. Konrad, leicht scheppernd die von St. Eberhard ein. Alle Glocken haben die gleiche Form und sind aus dem Material, „mit dem sie am besten klingen, nämlich Glockenbronze, die zu 78 Prozent aus Kupfer, zu 22 Prozent aus Zinn besteht, das hat man immer wieder ausprobiert“, sagt Hirschmann. Wie gut sie dann klingen, verdanken sie auch Zufällen und dem Geheimnis jedes einzelnen Gießers. In der Stuttgarter Heusteigstraße gab es bis 1962 die in der neunten Generation arbeitende Glockengießerei Kurtz, deren Produkte einen hervorragen Ruf genossen. Glockengießen war den Kurtzens ein christliches Handwerk: „Nun danket alle Gott“, wurde gesungen, wenn eines der himmlische Klänge erzeugenden Produkte in die Form kam.

 

Importiert worden war die Glockenspielkunst aus Belgien und Holland, wo sie sich im 16. Jahrhundert entwickelt hatte. Zunächst glich sie einem Ausdauersport. Von „Cariolleuren“ – Carillon ist der Fachbegriff für die Urform des Glockenspiels – wurden die Töne in fast turnerischer Manier mittels Seilzügen erzeugt. Später entwickelte man Spieltische mit großen Stocktasten, die mit Fäusten und Muskelkraft bearbeitet werden mussten, damit über einen Draht ein Impuls an die gewünschte Glocke weitergegeben werden konnte. Im 20. Jahrhundert elektrifizierte man die Anschlagwerke – in Stuttgart im Jahr 1925. Von einem Spieltisch aus schickt man nun durch Tastendruck den Stromimpuls zum Schlagwerk.

Jede Glocke erzeugt 50 Töne

Ein Glockenspiel zu betätigen ist inzwischen also weniger dramatisch, verlangt aber nach wie vor großes Feingefühl und ausgeprägte Musikalität. Pianisten und Organisten konnten seit der Elektrifizierung das Instrument spielen, wenn sie dessen spezielle Wirkungsweise auf den Zuhörer verstanden. Glockenspielmusik ist nur zweistimmig, weil die Glockenklänge lange nachklingen und sich sonst zu einem Klangbrei mischen würden. „Man könnte bei mehr Glocken die Melodien gar nicht mehr erkennen, das ist für die menschlichen Ohren unschön. Die tiefen Glocken sind dominant, und vorwiegend die Melodieglocken, die kleinen, hellen müssen drum herum tönen. Sie verzieren und bilden mit ihren einzelnen Tönen die Akkorde der Komposition“, erläutert Hirschmann. Ausfuchsen müsse sich das jeder Akteur selbst, „es gibt wenige Glockenspieler, wahrscheinlich auch, weil es keine Literatur dazu gibt“.

Hörerfahrung spielt eine große Rolle. Denn von jeder einzelnen Glocke werden fünfzig verschiedene Töne erzeugt. Nur vier, fünf von ihnen – etwa der Schlagton – sind prägnant. „Was wir anschließend aufnehmen, sind die ganzen Innentöne mit einer tiefen Oktave, einer hohen Oktave des Schlagtons. Eine Terz und eine Quinte. Diese 50 Teiltöne bilden in ihrer Gesamtheit die Klangfarbe und machen den vollendeten Glockenton aus“, sagt der Experte. „Wenn sie nicht gut abgestimmt sind, will man die Glocke nie mehr hören.“