150 Jahre „Das Kapital“ von Karl Marx: Ist der Mensch von Natur aus Kapitalist oder Marxist, konservativ oder progressiv? Man wird nicht als Linker oder Rechter geboren, sondern dazu gemacht.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - Der Mensch hegt und pflegt seine Traditionen und strebt zugleich nach revolutionären Umwälzungen. Sein Leben entfaltet sich im Spannungsfeld von Kontinuität und Fortschritt, Identität und Bilderstürmerei. Konservative haben sich die Bewahrung bestehender Ordnungen zum Ziel gesetzt. Sozialisten propagieren den permanenten Fortschritt, Utopisten glauben an die Vision einer perfekten Gesellschaft. Das Tragische ist, dass Utopien sich in ihr Gegenteil verkehren, sobald man versucht sie zu verwirklichen.

 

Utopie und Realität

Das kommunistische Paradies, von dem Karl Marx (1818-1883) einst träumte, ist hierfür das beste Beispiel. Da sich die Utopie der klassenlosen Gesellschaft in Russland nicht auf friedlichem Wege verwirklichen ließ, griffen die Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) zur Gewalt.

Das führte zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse und zu noch mehr Gewalt, um den Widerstand in der Bevölkerung zu brechen. Aus Revolutionären wurden linke Reaktionäre, die mit allen Mitteln versuchten das Eroberte zu bewahren und gegen jede Veränderung zu verteidigen.

Zivilisation und Urzustand

Die Frage, ob der Mensch von Natur aus konservativ ist, setzt voraus, dass es einen Naturzustand gibt. In der Philosophiegeschichte hat man darüber immer wieder nachgedacht. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) sprach vom „Krieg aller gegen alle“. Kultur, Tradition und Zivilisation sind ihm zufolge aus der Notwendigkeit entstanden, dem Menschen das Überleben zu sichern.

Für den französischen Denker Jean-Jacques Rosseau (1712–1778) ist der Naturzustand, in dem der Mensch im Einklang mit der Natur lebte, das Ideal, zu dem die Gesellschaft zurückkehren muss.

Leben und Lernen

Dieser Zustand, der am Anfang der Menschheitsgeschichte steht, ist jedoch genauso Fiktion wie eine lineare geschichtliche Entwicklung. Die Zukunft ist keine verlängerte Gegenwart. Was geschehen wird, ist weder vorhersehbar oder logisch zu ergründen, noch kann es aus der Historie erschlossen werden. Geschichte ist keine Zugfahrt, die man einfach beschleunigen (progressiv), anhalten (konservativ) oder umkehren (reaktionär) kann. Sie ist ein Prozess, in dem man das Zusammenleben mit anderen durch Interaktion mit seiner sozialen und natürlichen Umwelt erlernt.

Bewahren und Entdecken

Der Begriff konservativ kommt vom Lateinischen „conservare“ (erhalten, bewahren). Wäre der Mensch von Natur aus konservativ, würde ihn dies hindern, die Welt zu entdecken und von ihr zu lernen. Ernst Bloch (1885–1977), der „Philosoph der Hoffnung“, umschreibt den menschlichen Aggregatzustand so: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Der Mensch müsse erst lernen, wozu er auf der Welt ist. „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“ Neugier und Hoffnung treiben den Menschen voran in eine Zukunft, die er selbst in der Hand hat.

Der Mensch ist von Natur aus beides: konservativer Rebell und revolutionärer Konservativer. Konservativ und progressiv, rechts und links sind reziproke Begriffe und bedingen sich wechselseitig. Der Mensch befindet sich in einem lebenslangen Lernprozess mit der ihn umgebenden Gesellschaft – von der er selbst ein Teil ist – , die ihn prägt und die er prägt.

Links und Rechts

Was Menschen voneinander unterscheidet, ist der Grad der Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen: Der Konservative duldet Fortschritt häppchenweise und nur dann, wenn Strukturen, Werte und Zustände sich vorsichtig und schrittweise verändern. Der Progressive drückt aufs Tempo und will den Lauf der Geschichte beschleunigen. Der Reaktionär will die Uhr zurückdrehen und den „Status quo ante“, einen idealisierten Zustand, wiederherstellen.

Welcher Typ man ist, hängt ab von der genetischen Disposition und Persönlichkeitsentwicklung, dem sozialen Umfeld, Intelligenzgrad oder Bildungsniveau. Ob der Einzelne eine Abneigung gegenüber Revolutionen hegt oder alles radikal zum Besseren wenden will, wird ihm nicht in die Wiege gelegt. Seine Haltung und Einstellung entwickeln und verändern sich, werden erlernt und erprobt, überprüft und verworfen. Sobald er seine Ziele erreicht hat, wird er versuchen das Erworbene abzusichern.

Egal, ob er sich das Etikett Linker oder Rechter zulegt. „Der radikalste Revolutionär“, sagt die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975), „wird ein Konservativer am Tag nach der Revolution.“