Auf ihrem neuen Album „Vulnicura“ beweist Björk ihren musikalischen Ausnahmerang. Hits braucht sich darauf nicht. Das Warten hat sich gelohnt, in jeder Hinsicht.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Zwei Damen hatten sich den Start ins Jahr 2015 anders vorgestellt. Erst wurde ein halbes Dutzend neuer Stücke von Madonna von Musikdieben ins Netz gestellt, kurz darauf gleich das komplette neue Album von Björk. Die beiden reagierten unterschiedlich. Die bekannteste Popsängerin der Welt erklärte, die Songs seien unfertige Rohversionen und würden sich so ohnehin nicht auf dem Album finden; die bekannteste Isländerin der Welt stellte einen Tag später das komplette Album zum kostenpflichtigen Download bei iTunes bereit – an Ehrlichkeit und Ehre ihrer Kunden appellierend.

 

Am 18. Januar war das, und die Frage, die man sich damals – mit diesem buchstäblich unerhörten Phänomen erstmals konfrontiert – stellen musste, war schwer zu beantworten: das Album den Lesern umgehend vorstellen oder zwei Monate bis zum offiziellen Veröffentlichungstermin an diesem Freitag warten? Wir haben beschlossen, zu warten. Erstens aus Respekt vor der Künstlerin, zweitens um die dreisten Musikräuber nicht nachträglich in ihrem Tun zu bestätigen, drittens damit Björks Fans sich nicht mit einem dünnen MP3-Download begnügen müssen, sondern nun tatsächlich zu einer CD, einer limitierten De-Luxe-CD mit umfangreichem Artwork oder der 180-Gramm-Doppel-LP greifen können und viertens, um die Integrität des Musikverlags sowie aller weiteren Beteiligten nicht zu unterminieren, die sich ja aus gutem Grund entschieden haben, das Album passgenau zur Eröffnung der Gesamtschau im New Yorker MoMA zu veröffentlichen.

Das Warten hat sich gelohnt, in jeder Hinsicht. Zu hören gibt es, wie bei Björk seit längerem gewohnt, erneut eine wundersame Hochzeit: Hochkomplex arrangierte und viel Hörkonzentration einfordernde Musikalität nebst einer nach wie vor völlig erratischen Singstimme vermählen sich mit unglaublich sonorem Einklang sowie jederzeit verblüffender Melodie und Metrik.

Nirgends ein Stück mit Hitqualität

In diversen Internetforen nörgeln Kritiker allerdings, dass sie wieder einmal weit weg sei von ihren ersten drei Alben und Stücken wie „Violently happy“ auf „Debut“, „Hyper-Ballad“ auf „Post“ oder „Bachelorette“ auf „Homogenic“ – und recht haben sie damit auch. Irgend ein Stück, das auch nur annähernd Hitqualitäten hätte (oder wenigstens die Chance, irgendwann mal im Radio gespielt zu werden), sucht man hier vergebens. Umgekehrt zeigt sich Björk Gudmundsdottir auf „Vulnicura“ auch gänzlich anders als etwa auf dem rein a-capella aufgenommenen Werk „Medulla“ oder dem mit seiner Sperrigkeit ungemein herausfordernden Album „Volta“.

Leicht macht sie es uns auch jetzt nicht – nicht mit dem rhythmisch die Sinne verwirrenden Schlussstück „Quicksand“, dem mit knapp vier Minuten zweitkürzesten Titel, und auch nicht mit dem Zehnminüter „Black Lake“ in der Mitte des Albums, einem mäandernden Strom, der seiner Mündung und auch seinem Versiegen im Nichts entgegenstrebt. Eine Höranstrengung erfordert das waidwund barmende, in schneidenden Höhen jauchzende, teils ins Mark fahrende Organ dieser so zierlich-fragilen und doch so großen, extraordinären Sängerin ohnehin.

Es spielt viel mit vom unbedingten Kunstanspruch, den Björk auch nach der Trennung von ihrem Ehemann verfolgt, dem amerikanischen Medienkünstler Matthew Barney, mit dem sie nahezu unverständliche Mammut-Avantgardearbeiten realisiert hat, etwa „Drawing Restraint“ oder „Cremaster“. Aber sie erhebt diesen Anspruch auf dem neuen Album auch für sich allein glaubhaft und wahrhaftig.

Vielleicht das schönste

Zugleich verleihen auf „Vulnicura“ vorzügliche Streicherarrangements und pulsierend dahinklickende Beats eine ganz eigene, kontemplative Ruhe. Verblüffendste Wendungen (man höre „Notget“) wechseln sich ab mit cinemascopehafter Breite in der durchgehend sanftmütigen Einspielung. Das epische Sehnsuchtsschwelgen kommt ohne jegliches Popmusik-Instrumentarium aus – es gibt keinen E-Bass, keine E-Gitarren, nicht einmal ein Schlagzeug.

Derart wundergeheilt warten wir also auf mehr: das im April erscheinende Calexico-Album oder das für den 1. Mai angekündigte „Rote Album“ von Tocotronic etwa, halten aber derweil fest, dass Björk das bis dato spannendste und am Ende vielleicht sogar schönste Album des Jahres vorgelegt hat.