Das Unbehagen am global praktizierten Gewinnstreben, am Gesetz des „immer mehr“ wächst. Nicht nur Philosophen, auch viele Bürger fragen inzwischen nach anderen Wegen. Bisher hat jede Alternative nur noch größeren Schaden angerichtet.

Stuttgart - Die dramatischen Folgen der Finanz- und Kapitalmarktkrise von 2008 sind noch nicht bewältigt, die nächste bahnt sich womöglich schon an. Das Unbehagen am global dominierenden Wirtschaftssystem wächst auch in jenen Ländern und Gesellschaften, die historisch betrachtet bisher am meisten davon profitiert haben. In zwei Debattenbeiträgen wollen wir ein streitbares, zugespitztes Pro und Kontra zum Kapitalismus liefern. Zum Auftakt kommt der Kapitalismus-Befürworter zu Wort.

Verfolgt man die Gelehrtendebatten und die Diskussionen in den entsprechenden Netzwerken, so drängt sich der Eindruck auf, eigentlich sei längst alles entschieden: Den Kapitalismus verteidigen nur noch ein paar scheinbar Unbelehrbare aus den Unternehmen, deren Verbänden und der Initiative Soziale Marktwirtschaft. Er sei, so das allgemeine Diktum im intellektuellen Diskurs, dem Tode geweiht und werde nur noch durch eine Verschwörung böser Mächte am Leben erhalten. War solcherart Kapitalismuskritik früher das Privileg linker Heißsporne und systemkritischer Intellektueller, ist sie heute tief in  bürgerliche Kreise vorgedrungen.

 

Dabei ist das Denken vieler bürgerlicher Kapitalismuskritiker gespalten. An einem vor einiger Zeit in einer Sonntagszeitung veröffentlichten Leserbrief lässt sich beispielhaft ablesen, wie – ganz im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault – die Kritiker des Diskurses selbst in den Regeln des Diskurses gefangen bleiben. Oder in anderen Worten: wie der Kapitalismus auch die Kapitalismuskritiker beherrscht. Im ersten Absatz kritisierte der Schreiber, dass eine neokapitalistische Wachstumsideologie die Menschheit ins Unglück führe. Das herrschende Wirtschaftssystem müsse deshalb überwunden werden; Bescheidenheit solle wieder Einzug halten ins menschliche Wirtschaften. Im zweiten Absatz forderte der Autor dann, dass allerdings die Renten sofort und deutlich erhöht werden müssten. Darunter natürlich auch seine eigene.

Die Sklavenwirtschaft ist keine Alternative

Diese kleine Beobachtung macht deutlich, dass eben selbst für viele Kritiker gilt: der Kapitalismus ist, um mal im Jargon unserer Zeit zu bleiben, alternativlos. Wobei, wer einen solchen Satz niederschreibt, ein Missverständnis provoziert. Er besagt nämlich nicht, dass es zu ihm wirklich keine Alternative gibt, sondern vielmehr, dass keine dieser Möglichkeiten eine befriedigende Alternative ist. Jedenfalls hat bisher noch niemand eine formuliert. Und diesen Umstand wird man beachten müssen.

Im Wesentlichen sind in der Geschichte der Menschheit drei Alternativen ausprobiert worden – mit unbefriedigendem Ergebnis: erstens die Sklavenwirtschaft, wie sie in der Antike und im frühen Mittelalter üblich war. Es gibt zum Glück nicht mehr viele Menschen, die diese Wirtschaftsform moralisch rechtfertigen. Zweitens der Feudalismus. Auch hier hält sich die Zahl seiner Verteidiger in Grenzen, obgleich es feudale Herrschaftsformen noch häufig auf der Welt gibt. Drittens der Sozialismus respektive Kommunismus. Er hat zweifellos wesentlich mehr Anhänger und gewinnt gerade kräftig neue hinzu. Unglücklicherweise hat diese Alternative aber noch nie funktioniert, jedenfalls wenn man dies bemisst an den Größen „allgemeiner Wohlstand“, „Zufriedenheit der Bürger“ und „soziale Gerechtigkeit“. Sie wird auch wohl nie funktionieren.

Sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus haben in ihren jeweiligen Geschichten viele Krisen durchlebt. Der Unterschied: der Kapitalismus mündete nach jeder Krise (Gründerkrise, Weltwirtschaftskrise) in einen reformierten Kapitalismus. Kein einziges hochentwickeltes kapitalistisches Land wurde, außer durch militärische Eroberung, aus sich selbst dauerhaft sozialistisch. Sozialistische Systeme hingegen mündeten nach ihrer Krise bisher stets in den Kapitalismus. Das gilt für China und Russland, das gilt auch für Kuba, dessen Präsident Raúl Castro sein Land längst den marktwirtschaftlichen Experimenten öffnet.

Der Sozialismus ist gescheitert

Die Überlegenheit des Kapitalismus hat mit seiner bemerkenswertesten Eigenschaft zu tun: Er wird der Natur des Menschen am ehesten gerecht. Diese Behauptung wird Kapitalismuskritikern die Zornesröte ins Gesicht treiben. Sie mag für viele zynisch wirken. Aber anders als der Sozialismus macht sich der Kapitalismus keine Illusionen über die Natur des Menschen. Um es unmissverständlich zu sagen: der Mensch neigt zur Gier. Oder, um es vornehmer auszudrücken: er neigt zum Eigennutz und Gewinnstreben. Wer arm ist, will reich werden. Wer nichts oder wenig hat, will das ändern und hinterher mehr besitzen. Niemand würde Lotto spielen, wäre es anders. Und wer reich ist, will nicht arm werden. Weder individuell noch als Volkswirtschaft.

Nur dem Kapitalismus ist es bisher gelungen, diese Grundeigenschaft des Menschen wirtschaftlich produktiv zu nutzen. Sozialistische Systeme sind, trotz nicht selten brutaler Umerziehungsversuche, daran gescheitert. Im schlimmsten Falle haben sie die Menschen ermordet, denen sie zu viel, also verbrecherischen Eigennutz unterstellten, wie Stalin beim Massenmord an den Kulaken oder Pol Pot in seinem kambodschanischen Steinzeit-Kommunismus. Die Erfahrung lehrt: Menschen wollen ein bestimmtes Maß an sozialer Ungleichheit, vorausgesetzt, sie stehen dabei auf der sonnigeren Seite. Jede exklusive Modemarke, jedes Statussymbol belegt das. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich: kein anderes Wirtschaftssystem ist sozial gerechter als der hochentwickelte Kapitalismus. Wohlgemerkt: er ist nicht an sich sozial gerecht, das kann niemand ernsthaft behaupten. Seine soziale Gerechtigkeit erwächst vielmehr aus der Chance, gesellschaftlich und materiell aufzusteigen. Dies muss allerdings gewährleistet sein – voilà, hier ist das Feld der Politik.

Menschen legen sich nur ins Zeug, wenn sie Gewinn machen

Eine Debatte über den Kapitalismus ist also sinnvoll nicht absolut, sondern nur komparativ zu führen. Verglichen mit anderen bisher erprobten Wirtschaftsformen erweist sich der Kapitalismus als überlegen. Für die gesellschaftlich und sozial kaum durchlässigen Sklavengesellschaften und feudalen Systeme wird das wohl keiner bestreiten. Es gilt jedoch auch für den real existiert habenden Sozialismus. In ihm war ein Aufstieg in der Machthierarchie nur durch persönliche ideologische Anpassung möglich. Am Beispiel Chinas kann man gerade beobachten, wie dieser Zwang zur ideologischen Anpassung als Preis des Aufstiegs geradezu auf die Spitze getrieben wird. Wer dagegen im Kapitalismus agiert, kann prinzipiell jede beliebige Weltanschauung vertreten. Deshalb verkündet ein Verlegererbe wie Jakob Augstein linke Ideen, verdient aber trotzdem als Gesellschafter am marktwirtschaftlichen „Spiegel“-Magazin und führt seine eigene Wochenzeitung, den „Freitag“, in der Logik der Marktwirtschaft. Der Kapitalismus ist ideologieneutral, solange man sich marktkonform verhält.

Marktkonform bedeutet: zu akzeptieren, dass Menschen sich nur ins Zeug legen, wenn sie dafür einen persönlichen Gewinn davontragen. Dieser Gewinn kann sich auch in Form sozialer Anerkennung ausdrücken. Die Mehrheit der Menschen bevorzugt jedoch einen erheblichen Anteil in Form eines materiellen Gewinns. Man mag das voller Abscheu Gier nennen. Fast alle Religionen verurteilen es und fordern Askese und Maßhalten – folgenlos. Noch keiner Religion oder Ideologie ist es seit der Neolithischen Revolution gelungen, dem Menschen das Streben nach persönlichem Gewinn auszutreiben. Es besteht wenig Hoffnung, dass dies in Zukunft möglich werden sollte. Vorstellungen von Wirtschaft, die dennoch darauf setzen, sind auf Sand gebaut. Alternativen zum Kapitalismus oder auch nur Überlegungen zu seiner Korrektur müssen also mit dem Gewinnstreben arbeiten, nicht dagegen.

Krisen und Zusammenbrüche

Nun kann niemand leugnen, dass der Kapitalismus global große Probleme schafft. Reichtum ist in ihm naturgemäß ungleich verteilt. Mächtige gesellschaftliche Interessen begrenzen Aufstiegschancen, sowohl für Einzelne als auch für ganze, bisher in Armut gehaltene Staaten. Wachstum hat Grenzen, weil die natürlichen Ressourcen zu Neige gehen. Gier macht blind für Gefahren, etwa der Umwelt oder im Verhältnis zwischen den Menschen. Periodisch durchläuft der Kapitalismus Krisen und Zusammenbrüche, die viele Menschen unverschuldet in Armut und Verzweiflung stürzen, während andere daraus noch reicher hervorgehen.

Diese Probleme müssen aber innerhalb des Kapitalismus gelöst werden. Wie hoch Gewinne besteuert werden; wie weit staatliche Vorschriften den Markt regulieren; in welchem Maße Vermögen und Einkommen umverteilt werden, um die Chancengleichheit zu erhöhen; wie gut das Bildungssystem ist; welche Pflichten Privateigentum auferlegt werden – das sind Fragen, die den Kapitalismus in seinem Kern nicht infrage stellen. Wer aber den Kapitalismus als Ganzes zu stürzen beabsichtig, der muss erklären, wie er mit dem größten Störfaktor umgehen will, an dem sämtliche Alternativen bisher gescheitert sind: nämlich mit dem Menschen selbst.

Der Autor Markus Reiter

Begriff Unter Kapitalismus versteht man eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht. Über den Markt werden Angebot und Nachfrage gesteuert. Deshalb spielt im fortgeschrittenen Stadium der Faktor Kapital (Maschinen, Anlagen, Geld) eine größere Rolle als der Faktor Arbeit oder Grundbesitz.

Markus Reiter Foto: privat

Autor Markus Reiter hat Politik, Geschichte und Volkswirtschaftslehre studiert. Heute arbeitet er als Publizist und als Schreibtrainer in seiner Stuttgarter Agentur „Klardeutsch“. Im Münchner Hanser Verlag ist sein Buch erschienen: „Klardeutsch. Neuro-Rhetorik nicht nur für Manager“.