EU und Demokratie gelten vielen praktisch als Gegensatzpaare – die Europäische Union kann aber nur so demokratisch sein, wie wir sie machen. Es gibt noch viel zu tun, schreibt StZ-Korrespondent in Brüssel, Christopher Ziedler.

Brüssel - Brüssel will dies, Brüssel macht das. Allein die Sprache signalisiert Distanz – dabei sind es von Stuttgart in die europäische Hauptstadt nur 416 Kilometer Luftlinie, während Berlin mit 512 Kilometern eine ganze Ecke weiter entfernt ist. Gedanklich freilich liegt die Stadt an der Spree viel näher als die an der Senne. Senne? Noch nie gehört? Eben!

 

Neben Entfernung schwingt auch Entfremdung mit. „Brüssel“ – das sind nicht wir. Schimpfwörter kursieren daher genug. Immer beliebter wird in Internetforen die „EUdSSR“, um der Europäischen Union den diktatorisch-planwirtschaftlichen Charakter der alten Sowjetunion anzuhängen. Zum traditionellen Begriffskanon gehört das „Demokratiedefizit“. Im Wortsinn, wonach des Bürgers Beteiligungsrechte zu wünschen übrig lassen, ist diese Beschreibung auch zutreffend. Längst aber – und mit dem Anhalten der Krise zumal – wird das Demokratiedefizit als Demokratieabstinenz diskutiert. EU und Demokratie gelten praktisch als Gegensatzpaare. Nordkorea lässt grüßen!

Mit der Realität hat das immer weniger zu tun. Die Europäische Union ist keine aus dem Nichts gekommene Besatzungsmacht, sondern Ergebnis von Verträgen zwischen demokratischen Staaten, die in bald sechs Jahrzehnten sechs Mal neu gefasst wurden – gebilligt jeweils von einer Mehrheit demokratisch gewählter Bundestagsabgeordneter. Dass die Deutschen nie direkt über den gewünschten Integrationsgrad Europas abgestimmt haben, liegt am deutschen Grundgesetz, nicht an Europa.

Formal ist demokratisch korrekt entschieden worden

Alles, was in Brüssel passiert, gründet somit auf den europäischen Verträgen. Nur den, der es nicht wissen will, kann etwa die „Regulierungswut“ überraschen, mit der die EU-Kommission ständig neue Richtlinien und Verordnungen ersinnt. Sie hat von Vertrags wegen das Monopol für Gesetzesvorschläge übertragen bekommen und in Artikel 1 den impliziten Auftrag, „einer immer engeren Union der Völker Europas“ entgegenzustreben. Wem das wie dem britischen Premier David Cameron nicht gefällt, der muss eine Vertragsänderung fordern. Das ist – abgesehen davon, dass er kürzlich in seiner Rede zur Europapolitik eine ganze Reihe falscher Behauptungen aufgestellt hat – der richtige Weg.

Das verbreitete Unbehagen am europäischen Ist-Zustand gehört nicht zu seinen Erfindungen. Formal ist in der Eurokrise demokratisch korrekt entschieden worden. Doch schwebte besonders zu Beginn vermeintliche Alternativlosigkeit angesichts eines womöglich drohenden Gelduntergangs über vielen Parlamentsentscheidungen – postdemokratische Zustände. Erst langsam fingen die nationalen Abgeordneten an – in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht zum Jagen getragen –, ihre Regierungschefs oder Finanzminister mit Mandaten in die Brüsseler Verhandlungsnächte zu schicken.

Dass Beschlüsse auf EU-Gipfeln nicht-öffentlich fallen, ist kritikwürdig – dass sie weitgehend von Expertengremien wie der Troika vorbereitet werden, genauso. Was daran aber ist spezifisch europäisch? EU-Kommission, Staats- und Regierungschefs tagen hinter verschlossenen Türen – wie das Bundeskabinett auch. In Brüssel werden immerhin einige Tagesordnungspunkte aus den Ministerräten live übertragen. Im Europaparlament tagen mehr Ausschüsse öffentlich als im Bundestag. Eine europäische Bürgerinitiative muss zwar nur angehört werden, aber es gibt wenigstens eine Anhörung. Und selbst die EU-Kommission fragt vor Gesetzesvorschlägen die Bürger nach ihrer Meinung. Meist antworten nur Regierungen und Lobbyisten. Das Demokratiedefizit hat deshalb auch mit einem Aufmerksamkeitsdefizit zu tun. Europapolitik wäre schon weniger undurchsichtig, würde mehr hingeschaut – durch schlichte Gewöhnung an die Abläufe.

Die Zahl der in Brüssel akkreditierten Journalisten sinkt

Dass die Gesetzesvorschläge der EU-Kommission beeinflussbar sind, was Europaparlament und nationale Regierungen als die eigentlichen europäischen Gesetzgeber auch zu nutzen wissen, ist kein Allgemeingut. Bevor es also zur nötigen Änderung der Verträge kommt, könnte schon mehr Interesse zu mehr öffentlicher Kontrolle führen, weniger bürokratische Alleingänge und Lobbyeinfluss inklusive. Doch statt zu steigen, sinkt im Zuge der Medienkrise die Zahl der in Brüssel akkreditierten Journalisten. Kaum lassen die bedrohlichsten Krisenausschläge nach, flacht das Interesse wieder ab.

Wenn Kanzlerin Merkel nach Athen reist oder im Europaparlament spricht, sind erste Ansätze einer bis jetzt fehlenden europäischen Öffentlichkeit erkennbar. Nächstes Jahr zur Europawahl wollen die Parteien jeweils einen Spitzenkandidaten für alle Staaten aufstellen. Ob das dazu führen kann, dass sich zur regionalen und nationalen Identität, die für die meisten Menschen noch immer die wichtigste Bezugsgröße ist, eine europäische gesellt?

Bei der notwendigen Vertragsreform geht es letztlich darum, ob sich Demokratie nur in einem nationalen Rahmen samt Staatsvolk manifestieren kann? Müssen für ein demokratischeres Europa mithin die Parlamente in den Hauptstädten besser eingebunden werden? Oder ist auch echtes europäisches Regieren, das nicht nur um die Ecke legitimiert ist, organisierbar?

Mehr Kompetenzen für die europäische Ebene

Der britische Premierminister hat diese Frage gerade so laut verneint wie schon lange kein Spitzenpolitiker mehr. Es gebe, so David Cameron in seiner bedeutenden Europarede, „keinen europäischen Demos“.

In der Konsequenz spricht er damit dem Europaparlament die Existenzberechtigung ab, die letztlich auf der Annahme basiert, dass gegenseitige Abhängigkeit gemeinsame Entscheidungen erfordert, an denen ein wie auch immer gearteter europäischer Bürgerwille beteiligt sein muss. Und es ist eine Absage an Bestrebungen, die EU einem Staat ähnlicher zu machen.

In Brüssel und Berlin wird in eine andere Richtung gedacht, nämlich an mehr Kompetenzen für die europäische Ebene. Langfristig geht es um die Direktwahl des Kommissionspräsidenten oder ein echtes parlamentarisches Zweikammersystem. In Deutschland wären für solch einen Einschnitt ein neues Grundgesetz und eine Volksabstimmung nötig – endlich, könnte man sagen.

Die EU-Diktatur als nützliches Feindbild

Das aber ist Zukunftsmusik. Bis dahin bleibt die herbeifantasierte EU-Diktatur ein nützliches Feindbild.

Solange Regierungen in Brüssel Politik machen können, die sie daheim nicht rechtfertigen müssen, sondern sogar noch publikumsträchtig beklagen dürfen, haben sie das geringste Interesse, ein besseres Europa zu bauen. Glühbirne, Steinkohle, Wasserprivatisierung oder Eurohaushalt – es gibt unzählige Beispiele dafür, wie etwas in Deutschland gegeißelt wird, was man selber in Europa mitgetragen oder gar initiiert hat.

Man könnte es einen systemimmanenten Sündenbock nennen: Um die eigene Gefolgschaft im Innern gegen die echten oder eingebildeten Absurditäten des Äußeren mobilisieren zu können, darf Brüssel, darf Europa, gar nicht Teil eines „Wir“ sein.