Unter den Demonstranten machen Gerüchte die Runde. Eines von ihnen besagt: Der Bahn sei vom Eisenbahnbundesamt ein mehrtägiger Stopp der Arbeiten auferlegt worden. Grund: der Bund für Umwelt- und Naturschutz hatte im Laufe des Donnerstags beim Stuttgarter Verwaltungs-gericht eine einstweilige Anordnung wegen Verstößen gegen den Artenschutz beantragt. Hoffnung keimt auf bei den Protestierern. Doch eine offizielle Bestätigung gibt es nicht. Die liefern am Freitagabend auf der Großdemo im Schlossgarten die Parkschützer nach.

Viele der Demonstranten sind frustriert


Sie zitieren aus einem offiziellen Schreiben des Eisenbahnbundesamts an die für Stuttgart 21 zuständige DB Projektbau, das der Bahntochter bereits am Donnerstagnachmittag vorgelegen haben soll. Darin wird der Bahn das Fällen der Bäume bis zum 8. Oktober untersagt, weil versäumt worden sei, die landschafts-pflegerische Ausführungsplanung für den Tiefbahnhof sowie ein Konzept für die im Schlossgarten lebenden seltenen Juchtenkäfer rechtzeitig vorzulegen. Für 25 Bäume, die Stunden zuvor abgeholzt worden sind, ist es da aber bereits zu spät.

Viele der nächtlichen Demonstranten sind tief frustriert von den Geschehnissen am Donnerstag. Sie lassen ihrer Wut freien Lauf. Jedes Mal, wenn die Polizisten ihre Schicht wechseln, werden sie als "Kinderschläger" beschimpft. Andere Protestierer berichten von einem "wild um sich prügelnden" Polizisten – eine Szene, die auch der evangelische Stadtdekan Hans-Peter Ehrlich beobachtet hat. Sein Versuch, zur Deeskalation beizutragen, scheiterte kläglich. "Mir wurde das Gespräch mit der Einsatzleitung verwehrt", empört sich der Geistliche in die nächtliche Ruhe hinein.

Ernüchtert ist auch die Augenärztin Christiane Knop, die als Demonstrantin in den Schlossgarten gekommen war und plötzlich als Ersthelferin ran musste. Sie spülte etlichen Verletzten das Pfefferspray aus den Augen – stundenlang. "Gott sei Dank hatte ein Kollege Tropfen dabei, um die Schmerzen der Betroffenen zu betäuben", sagt die Ärztin. Die brennenden Augen seien für viele aber bei weitem nicht das Schlimmste gewesen, betont Knop. "Die meisten Verletzten standen unter Schock, waren schwer traumatisiert oder haben geweint. Viele musste man erst einmal in den Arm nehmen."

Polizeiaufgebot aus der ganzen Republik


Kurz vor ein Uhr nachts beginnt für die Parkschützer der Ernstfall: Die ersten Bäume sollen "abgehen", wie es der Projektsprecher Udo Andriof formuliert hat. Mit Scheinwerfern erleuchtet die Polizei den abgesperrten Teil des Schlossgartens, etwa tausend Polizisten mit Helmen, Gasmundschutz und Schienbeinschonern bilden eine Kette rund um das Absperrgitter. Sie kommen aus Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen, viele wissen kaum, was Stuttgart 21 ist.

Motorsägen heulen auf, große Bagger greifen nach den Ästen, die in einen Häcksler gefüllt und schnell zerkleinert werden. Trillerpfeifen und Vuvuzelas ertönen, rund 2500 Demonstranten rufen immer wieder: "Baummörder!" Eine Gruppe fordert lautstark: "Mappus in den Schredder!" Dann macht sich bald wieder Ernüchterung breit. "Wir haben heute versagt, wir waren für den Tag X nicht gut organisiert", klagt ein Parkschützer.

Projektgegner verlassen traurig den Park


Alles Anketten und Auf-die-Bäume-Klettern habe nichts genutzt – und die fünf von Robin Wood besetzten Bäume liegen außerhalb des ersten Bauabschnitts. Andere geben der Polizei mit ihrer "Rambotaktik" die Schuld. "Gegen ein solch massives Aufgebot können wir nichts ausrichten", sagt Matthias von Herrmann, der Pressesprecher der Parkschützer. Eine Frau hat Tränen in den Augen: "Die machen Stuttgart kaputt, da kann man nur noch wegziehen."

Ein paar Dutzend Menschen übernachten im Park. "Wo ist das hier noch Demokratie?", fragt ein Mann. Der Boden unter ihm ist vom Regen und von den Wasserwerfern durchnässt. Die letzte Musikgruppe spielt einen Totenmarsch, ein Akkordeonspieler stimmt "Mein Freund, der Baum, ist tot" an. Als Sägen und Bagger an die größte Platane gehen, versucht eine Gruppe von Demonstranten, den Bauzaun zu durchbrechen – vergeblich. Gegen die Polizeimauer haben sie keine Chance. Immer mehr Projektgegner verlassen traurig den Park.