Die Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre gelten oft als hässliche Bausünden. Zumindest in Teilen sei dies falsch, sagen die Denkmalschützer. Ein neues Buch beschreibt die Situation in der Region Stuttgart.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Die Architektur der Nachkriegszeit hat unter normalen Bürgern einen üblen Ruf: Viele sehen sofort öde Trabantenstädte und dicht gedrängte Wohnquartiere vor ihrem inneren Auge. Die Kritik an vielen dieser Siedlungen hatte tatsächlich bereits mit dem Bau eingesetzt, und bis heute sind selten Entrüstungsstürme zu erwarten, wenn Investoren solche Gebäude abreißen. Auch in Stuttgart sind in den 1960er und 1970er Jahren, als große Wohnungsnot herrschte, in Freiberg, Neugereut und im Asemwald diese „vertikalen Dörfer“ entstanden.

 

Bei den Experten – also unter Architekten, Denkmalpflegern und Kunsthistorikern – hat der Sinneswandel dagegen längst begonnen. Sie räumen zwar ein, dass es mehr problematische als gelungene Quartiere gebe, gerade auch aus sozialen Gesichtspunkten. Aber sie betonen dennoch die große architektonische Qualität, die zumindest manche Gebäude besitzen. In Stuttgart sind deshalb vier Siedlungsbauten aus jener Zeit vor wenigen Monaten unter Denkmalschutz gestellt worden (siehe Bildergalerie).

Christina Simon-Philipp, Professorin an der Hochschule für Technik in Stuttgart, hat im vergangenen Jahr mit Kollegen diese Architektur in der Region Stuttgart genauer unter die Lupe genommen. Der Titel des daraus entstandenen Buches bringt die Bauphilosophie der damaligen Zeit auf den Punkt: größer, höher, dichter – so heißt das Buch, nach diesem Motto handelten die Architekten. Sie haben ausprobiert, wo die Grenzen des Machbaren lägen: „Mit gnadenloser Rigidität wurden damals architektonische Ideen umgesetzt“, sagt Christina Simon-Philipp.

Viele Häuser bieten einen sehr hohen Wohnwert

Erst auf den zweiten Blick erschließe sich die Qualität dieses „ungeliebten baukulturellen Erbes“: „Kubische Architektur, durchdachte städtebauliche Zusammenhänge, eine gelungene Einbindung in die Landschaft, Wohnungsbau und Städtebau aus einer Hand, maximale Ausnutzung des Grund und Bodens und ein hoher Wohnwert mit großzügigen Grundrissen waren die Maximen der qualitätsvollen Planungen.“ Tatsächlich loben beispielsweise die Bewohner im Asemwald bis heute ihre Wohnungen. Es lohne sich, sagt auch Simon-Philipp, einen Teil der Siedlungen mit ihrem gut durchdachten Konzept und dem hervorragenden Wohnwert zu erhalten.

Allerdings sind viele, weil man ihren Wert nicht sieht, längst massiv umgebaut und verändert worden. Die Hochschule für Technik hat in der Region Stuttgart 60 Siedlungen und Wohnanlagen untersucht; nur sieben wurden als Kulturdenkmale anerkannt, auch, weil bei vielen sehr viel originale Bausubstanz verloren ist. Zudem, so der Autor Martin Hahn im Buch, seien viele Siedlungen in der Region Stuttgart zwar typisch für ihre Zeit, „ragen aber nicht über das allgemeine Maß bundesdeutschen Siedlungsbaus“ hinaus und sind deshalb nicht erhaltenswürdig. Es ist so kein Wunder, dass in Stuttgart eher die besonderen Gebäude unter Denkmalschutz gestellt wurden und nicht die typischen.

Ein vorurteilsloser Blick ist noch immer nicht ganz möglich

Die Weigerung großer Teile der Bevölkerung, diese Siedlungen als schön zu empfinden, dürfte vorerst aber bleiben. Gerhard Kabierske vom Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau in Karlsruhe kennt dies aus der täglichen Arbeit. Er sagt: „Es dauert wohl noch eine Generation, bis uns klar wird, welche Bedeutung diese Architektur hat.“ Zu nahe sei man noch der Epoche, um einen ganz vorurteilsfreien Blick auf sie werfen zu können. Christina Simon-Philipp sieht das ähnlich: „Wir müssen lernen, uns weniger emotionsgeladen mit diesen Werken auseinanderzusetzen.“

Die Literaturangabe: Karin Hopfner, Christina Simon-Philipp, Claus Wolf (Hg.): größer, höher, dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart. Krämer Verlag Stuttgart, 288 Seiten, Preis 29,80 Euro.