Im Fall der Stuttgarter Maschinenfabrik Kuhn kommt der Denkmalschutz zu spät. Doch jetzt wird das Unternehmen wieder sichtbar.

Stuttgart - Nichts ist übrig geblieben. Nicht das Büro des Eisenkönigs, nicht seine Villa, und wo einst die Maschinenfabrik stand, stehen nun Menschen auf den Balkonen einer modernen Wohnanlage, die als Parkquartier Berg vermarktet wird. Markus Speidel blickt auf einen alten Stadtplan, er hebt den Kopf, er schaut nach links und rechts, sieht dabei Grünanlagen und den Turm des SWR – aber was er nicht sieht, sind die baulichen Überreste eines der wichtigsten Unternehmen der frühen Stuttgarter Industrialisierungsgeschichte: Die Maschinen- und Kesselfabrik Kuhn ist verschwunden, jeder Denkmalschutz kommt hier zu spät. Vor rund 150 Jahren war Kuhn ein Big Player in Stuttgart, als noch kaum jemand Gottlieb Daimler kannte, als Robert Bosch gerade auf die Welt gekommen war.

 

Mit dem baulichen Verschwinden des Unternehmens ist seine Geschichte in Vergessenheit geraten. Markus Speidel arbeitet im Planungsteam des künftigen Stuttgarter Stadtmuseums. Er hat Kuhn wiederentdeckt – mit Hilfe des Internets belebt er nun ein Kapitel der Stuttgarter Geschichte, das nach seiner Meinung viel zu oft überblättert wird. „Die Firma Kuhn besaß für die Stadt eine große Bedeutung“, sagt Speidel, „und ich fragte mich deshalb: wie kann ich von ihr noch Überreste finden?“

Virtuelle Spurensuche

Inzwischen ist Markus Speidel fündig geworden. Wenn er auf seinem Computer die Seite „Google Maps“ aufruft, tauchen auf dem Stadtplan von Stuttgart zahlreiche blaue Nadeln auf. Die Markierungen zeigen all jene Orte, an denen Menschen Gegenstände mit dem Firmenstempel Kuhn gefunden haben. Speidel sieht inzwischen eine Menge Treffer auf dem Stadtplan. Die Idee für die virtuelle Spurensuche kam ihm, als er eines Tages vor dem Weißen Saal des Neuen Schlosses stand und sich einen Kanaldeckel näher ansah. Er war von Kuhn aus Stuttgart-Berg.

Speidel fing Feuer. Als er im Westen einen Kuhn’schen Brunnen entdeckte, fragte er sich, wie viele Spuren der einstige Großbetrieb noch in der Stadt hinterlassen hat. Nach einer kleinen Ausstellung über die Firma entschloss er sich, „gemeinsam mit anderen Menschen auf eine historische Spurensuche zu gehen“. Seitdem erreichen ihn immer mehr Bilder von Kanaldeckeln, Brunnen und Hydrantendeckeln – sogar eine Dampfmaschine und Kolbenpumpen aus dem Betrieb von Kuhn sind aufgetaucht. „Die Firma selbst gibt es zwar nicht mehr“, sagt Markus Speidel, „aber viele ihrer Produkte haben überlebt.“

Als 14. Kind zur Welt gekommen

Stück für Stück ist nun im Internet auf dem Stuttgarter Stadtplan eine Geschichte wieder lebendig geworden, die ganz am Anfang unglaublicher Aufschwungjahre stand, welche die Stadt für immer veränderten: Gotthilf Kuhn kam am 22. Juni 1819 als 14. Kind des Ehepaares Kuhn auf die Welt. Seinen Vornamen erhielt er nicht von ungefähr – die Mutter war mit 45 Jahren zur damaligen Zeit schon sehr alt, um ein Kind zu bekommen.

In seinen jungen Jahren war das Königreich Württemberg ein von wiederkehrenden Hungersnöten geplagtes Armenhaus. Die Industrialisierung war für die Menschen lediglich ein fernes Hintergrundrauschen, das kaum ihren Alltag berührte: England stand längst unter Dampf, Württemberg erst an der Schwelle zu einem modernen Wirtschaftssystem. Der junge Gotthilf Kuhn zeigte früh eine Begabung für das Praktische, die ihn erst zu einem Schlosser in die Lehre führte und später forttrieb aus Württemberg nach Berlin, das Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein Zentrum des Maschinenbaus war.

Gehätschelt und gefördert

Dort knüpfte Kuhn Kontakte und lernte all jene technischen Grundlagen, die ihm später in seiner alten Heimat weiterhelfen sollten. 1851 erwarb Gotthilf Kuhn einen Bierkeller in Stuttgart-Berg – ein Jahr später gründete er das nach ihm benannte Unternehmen. „Berg“, erzählt Markus Speidel, „galt lange als Herz der württembergischen Industrie, dort befanden sich die ersten Fabriken.“ Aus diesen Start-up-Unternehmen ragte Kuhn heraus: Gehätschelt von dem Wirtschaftsförderer Ferdinand von Steinbeis, gefördert von König Wilhelm I. blühte der Betrieb auf. Kuhn fertigte Dampfmaschinen an, sein Eisenguss prägte in Form von Springbrunnen und Straßenlaternen das Stadtbild. In Berg stellten die Arbeiter die Treppenanlage der Stuttgarter Gewerbehalle, die Ulmer Bahnhofsvorhalle und einen Teil der Düsseldorfer Synagoge her. Jene Arbeiter, die sich als Kuhnler bezeichnen durften, standen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Spitze des industriellen Fortschritts.

Doch der Eisenkönig von Berg ist Geschichte. Markus Speidel vergleicht seinen alten Stadtplan mit der heutigen Umgebung in Stuttgart-Berg. Auf dem Gelände des Wohnquartiers dampften früher die Schlote. Wo heute das Tokio Dining auf Gäste wartet, saßen die Menschen einst in der Restauration Carl Laicher, auf dem SWR-Gelände befanden sich seinerzeit die Lagerplätze von Gotthilf Kuhn. Und plötzlich wird Markus Speidel unerwartet doch noch fündig. In der Villastraße steht noch ein altes Haus, Speidel vergleicht die Hausnummer mit den Eintragungen im alten Stadtplan: Er hat ein Wohnhaus entdeckt, das einst Teil einer großzügigen Wohnanlage des Fabrikanten Gotthilf Kuhn war.

Moderne Wege der Geschichtsvermittlung

Den Fund empfindet er als einen Auftrag, in den Akten des Stadtarchivs weiter zu recherchieren, um noch mehr über das Haus zu erfahren. Was könnte dabei noch über Gotthilf Kuhn und dessen Unternehmen ans Tageslicht kommen? Mit seinem Internetprojekt der Kuhn-Spurensuche beschreitet Markus Speidel moderne Wege in der Geschichtsvermittlung: „Ich will die Leute dafür sensibilisieren, dass sie mit einem anderen Blick durch die Stadt gehen. Wer selbst etwas in der Stadt sucht und findet, der interessiert sich auch für die Geschichte, die dahintersteckt.“

Die Firma Kuhn ist für den Mitarbeiter des Stadtmuseums erst der Anfang. Sein nächstes Projekt plant er bereits, es trägt den Titel „Where are the horses?“ Das berühmte Zitat spielt ironisch auf den Deutschlandbesuch der britischen Königin an, von dem die Legende überliefert wurde, sie habe sich weniger für Schiller als für das Marbacher Gestüt interessiert. Speidel will die Stuttgarter nun nach dem Tier im Stadtwappen suchen lassen. Wo überall finden sich wohl Pferde im Stadtbild – und was lässt sich über sie erzählen?