Der Mögglinger Udo Schurr bemalt gerne nackte Menschen. Per Airbrush verwandelt er Körper in Kunstwerke. Ein bunter Nachmittag mit dem Bodypainter.

Mögglingen/Schwaikheim - Anja führt normalerweise ein bürgerliches Leben. Sie ist Anfang 30 – ihr genaues Alter will sie nicht verraten –, verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Controllerin in einem großen Unternehmen. Nun steht sie nackt bis auf einen schmalen String-Tanga in der Schwaikheimer Galerie Yellow Arts. Ihre bloße Haut dient als Leinwand. Claude Monets Gemälde „Frau mit Sonnenschirm“, Sandro Botticellis „Venus“, Salvador Dalís „The Persistence of Memory“ und René Magrittes „Der Sohn des Mannes“ sollen Anja in den folgenden fünf Stunden in ein lebendiges Kunstwerk verwandeln.

 

Vor ihr kniet Udo Schurr, 46. Schurr ist ein Könner seines Fachs: zweifacher Weltmeister, vierfacher Vizeweltmeister. Er trägt Jeans, die mit Farbe verschmiert sind. Unter seinem Hemd schimmert ein schwarzes, eng anliegendes Muskelshirt durch. Seine Haare sind zu einer Stehfrisur hochgegelt. Schurr ist gelernter Glas- und Fensterbauer, er jobbt in Teilzeit in der Produktion eines Automobilzulieferers. Seine Passion ist aber das Bodypainting.

Udo Schurr erschafft seine Körpergemälde nicht mit einem Pinsel, sondern per Airbrush. Als Erstes verpasst er Anja eine, wie er sagt, „leichte Grundierung“. Mit zarten Sprühstößen hüllt er sein Model in weiße Farbe ein. „Dann kommen die Farben später besser raus“, sagt er.

Seine Freundin wird zum Übungsobjekt

Schurr war schon als Jugendlicher von den Airbrush-Bildern fasziniert, die er in Motorsportzeitschriften entdeckte. Eines Tages kaufte er sich im nächstbesten Malergeschäft eine Aibrush-Ausrüstung und legte „einfach mal los“. Bald waren die Werke des Autodidakten im Freundeskreis gefragt. Die ersten Auftragsarbeiten wurden bestellt, beispielsweise großflächige Dekorationen für Restaurants. „Aber irgendwann ist es mir zu langweilig geworden, nur auf Wände zu malen“, sagt er.

So kam er auf die Idee, Menschen zu besprühen. Dass diese Kunstform nicht seine Erfindung ist, sondern es diverse Airbrush-Bodypainter in der weiten Welt gibt, wusste er. Doch was soll’s? Man muss ja nicht der Erste sein, der etwas Ausgefallenes tut. Hauptsache, man zählt zu den Besten. Seine damalige Freundin wurde zum Übungsobjekt. Es folgten weitere Freundinnen und somit weitere Übungsobjekte. Das war Anfang der 1990er Jahre.

Körperbemalung ist quasi so alt wie der Homo sapiens. Schon Steinzeitmenschen verzierten sich mit Farben, die sie aus Brauneisenstein, Tonmineralien, Quarz, Kalk oder Holzkohle herstellten. Krieger bemalten sich martialisch, um ihre Gegner einzuschüchtern. In der Moderne kam der Begriff „Körperkunst“ auf: In den 1960er Jahren entdeckten Künstler ihre eigene Gestalt als Kunstobjekt und setzten sich selbst in Szene. Die Body-Art wurde ein Teil der Hippiekultur.

Im 21. Jahrhundert gehören Tätowierungen auf der Epidermis, Wangenrouge und Lippenstift zu einem kommerzialisierten Körperkult. Auch britische Herrensakkos, französische Haut Couture und italienische Schuhe dürfen als eine Art Bemalung gelten: „Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern“, schreibt Heinrich Heine.

Das europäische Bodypainting-Festival

1998 fand das erste europäische Bodypainting-Festival in Kärnten statt. Was als rein alpenländischer Wettbewerb unter der Beteiligung von Österreichern und Schweizern begann, entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer richtigen Weltmeisterschaft: In einer vorgegebenen Zeit bemalen die Teilnehmer ihre Models zu einem von der Jury bestimmten Thema. Mittlerweile reisen Künstler aus ganz Europa, den Vereinigten Staaten, Kanada, Brasilien und Australien nach Pörtschach am Wörthersee. Ihnen winken 34 000 Euro Preisgeld sowie Ruhm und Ehre.

Udo Schurr nahm 2002 mit seinem Künstlerkollegen Patrick McCann aus den USA zum ersten Mal an dem Festival teil. Das Zwei-Mann-Team belegte bei seiner Premiere den dritten Platz. Es war der Beginn einer Erfolgsserie. Seinen letzten Vizemeistertitel errang der Mögglinger Schurr vor zwei Jahren im Gespann mit der Griesheimerin Melanie Hill.

Am häufigsten zeigt Udo Schurr sein Können auf allen möglichen Messen. „Da gibt es Leute, die sich gar nicht hinzuschauen trauen, und Frauen, die ihre Männer weiterziehen, wenn diese zum Zugucken stehen bleiben“, erzählt er. Auch in einer Zeit, in der Pornografie im Internet frei zugänglich ist, zieht ein unbekleideter Frauenkörper noch Voyeure an und wirkt auf Prüde verstörend. Wenn die Nacktheit des Models mit Farbe bedeckt wird und Bilder entstehen, ändert sich das Publikum: „Ich male meistens als Erstes die Brüste zu, damit die Spanner abhauen und nur die Kunstinteressierten übrig bleiben“, sagt Schurr.

Pure Konzentration

Auch bei Anja arbeitet er sich von oben nach unten vor. In der Schwaikheimer Galerie Yellow Arts steht das Model vor einem kulturbeflissenen Publikum. In der ersten Reihe sitzen zwei ältere Damen, die sich angeregt über das unterhalten, was vor ihren Augen allmählich Formen annimmt. Die schmelzenden Uhren von Dalís „The Persistance of Memory“ platziert Schurr auf Anjas Dekolleté und Brust, darunter auf dem Bauch Botticellis „Venus“.

Allein durch den Sprühabstand variiert der Bodypainter die Intensität der Farben, mischt sie teilweise direkt auf der Haut und erzielt so neue Effekte. Bis auf wenige Millimeter nähert er sich seinem Model, ohne es zu berühren. Sein Blick signalisiert pure Konzentration. „Wenn ich male, bin ich wie in Trance“, sagt Udo Schurr. Lenkt ihn die natürliche Schönheit seiner lebenden Leinwand nicht ab? „Nein, das war vielleicht früher so, aber daran gewöhnt man sich“, antwortet Schurr. „Ich habe schon so viele nackte Frauen gesehen.“ Ausblenden müsse er nichts: „Bodypainting hat mit Sexualität nichts zu tun.“

Udo Schurr sagt, dass ihm Kurven lieber sind als „Kleiderständer à la Karl Lagerfeld oder Heidi Klum“. Stolze Schwangere lassen sich ebenso von ihm besprühen wie Pfundskerle mit Bierbauch. Für die Eröffnung der Landesgartenschau in Schwäbisch Gmünd verwandelte er kürzlich mit seiner Kollegin Melanie Hill acht Herren in „Statuen“, indem er sie mit abstrakten Blumen- und Blattmustern besprühte.

Vergänglich wie der menschliche Körper

Den interessantesten Auftrag bekam Schurr von dem Anatomen Gunther von Hagens. Für eine Körperwelten-Ausstellungen sollte er Models so bemalen, dass sie wie die Exponate aussahen: „Die haben sich dann einfach zwischen die Plastinate gestellt und manch einen Besucher ordentlich erschreckt, wenn sie sich zwischen den Toten plötzlich bewegt haben.“

Die meisten Motive entwirft er den Wünschen seiner Auftraggeber entsprechend, auch bei Wettbewerben sind die Themen vorgegeben. In der Ausgestaltung sei er aber komplett frei, betont Schurr. Vor jedem Bodypainting erstellt er eine Skizze am Computer. „Dazu nehme ich ein Foto eines Models als Grundlage, um die Proportionen zu errechnen“, erläutert er.

Auch auf den Schwaikheimer Live-Act mit Anja hat er sich so vorbereitet. Doch das lebende Objekt erweist sich als etwas anders geformt als die Computeranimation: Der Mann mit dem Apfel vor dem Gesicht aus dem Gemälde „Der Sohn des Mannes“ des Surrealisten René Magritte passt nicht so unter Botticellis „Venus“, wie Udo Schurr sich das vorgestellt hatte. Kein Problem: „Dann kommt er eben hinten drauf“, sagt er, legt seine Skizze beiseite und vollendet sein Werk frei Hand.

Bodypainting ist nicht für die Ewigkeit geschaffen. Maximal einen Tag werden die mit Wasser abwaschbaren Spezialfarben auf Anjas Haut halten. Udo Schurr sagt: „Meine Kunstwerke sind Eintagsfliegen.“ Vergänglich wie der menschliche Körper.