Wie die IS-Mörder ticken, haben sich nach den jüngsten Anschlägen viele gefragt. Antworten gibt der genauere Blick auf den saudischen Wahhabismus. Eine Analyse unseres Nahost-Korrespondenten Martin Gehlen.

Kairo - Navid Kermanis Friedenspreisrede rüttelte auf. In der Paulskirche beklagte der Geehrte den Untergang des multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Orients, „den ich in seinen großartigen literarischen Zeugnissen aus dem Mittelalter studiert und während langer Aufenthalte in Kairo und Beirut, als Kind während der Sommerferien in Isfahan (. . .) als eine zwar bedrohte, niemals heile, aber doch quicklebendige Wirklichkeit lieben gelernt habe“. Der Islam führe einen Krieg gegen sich selbst, diagnostizierte Kermani und beschrieb die verheerenden Symptome – den fast schon vollständigen Bruch mit seiner Tradition, den Verlust des kulturellen Gedächtnisses und seine zivilisatorische Amnesie.

 

Im Westen ist der 20. November 1979 längst vergessen, für die Welt des arabischen Islam dagegen markiert das Datum eine Zäsur mit katastrophalen Folgen. Damals kidnappten 500 radikale Gotteskrieger die große Moschee in Mekka. Zwei Wochen dauerten die Kämpfe, Hunderte von Pilgern starben, am Ende lag das zentrale Heiligtum des Islam teilweise in Trümmern. Das saudische Königreich, die Heimat des Propheten Mohammed, war in seinen Grundfesten erschüttert und reagierte mit einem ebenso fundamentalen wie folgenschweren Kurswechsel. Die Gewalttäter exekutieren, ihre geistigen Brandstifter dogmatisch befrieden, lautete die doppelte Marschroute. Und so wurde in puncto sittlicher Strenge und religiöser Eindeutigkeit kräftig nachgearbeitet.

Kultur der Vielfalt gegen ultraorthodoxe Eindeutigkeit

Fortan ging ein Drittel der Schul- und Studienzeit mit Koranauslegung und Scharia-Unterricht drauf. Statt Vokabeln zu lernen und sich Formeln einzuprägen, büffelten saudische Schüler heilige Suren und Episoden aus dem Leben des Propheten. Frauen mussten sich verschleiern, Männer ließen sich Bärte wachsen, selbst auf den Dörfern erschienen plötzlich Religionspolizisten. Und bald waren die Jungen konservativer als die Alten.

In der Religionsgeschichte gehört der Nahe und Mittlere Osten zu den kreativsten und farbigsten Regionen der Welt. Hier lebten Menschen fast aller muslimischen, christlichen und jüdischen Glaubenskulturen zusammen. Über Jahrtausende hinweg entwickelte sich ein faszinierendes Ineinander von Gottesdienst und Kulturen, von Gelehrsamkeit und Dialog, von Bräuchen und Festen. Mit der innersaudischen Wende vor 35 Jahren jedoch begann das religiöse Koordinatensystem des Nahen Ostens immer heftiger zu oszillieren – zwischen dem alten Pol gelassener Pluralität und dem neuen Pol ultraorthodoxer Eindeutigkeit. Für die einen bedeutet Vielfalt im Glauben Reichtum, für die anderen ist es ein Missstand – ein Antagonismus, der mittlerweile sämtliche Gesellschaften des Nahen Ostens zerreißt, denn im Zentrum dieses innerislamischen „Krieges gegen sich selbst“ steht das Verhältnis von Kultur und Religion.