Reportage: Robin Szuttor (szu)
Es gibt Tendenzen, das Untersuchungsfeld von „ Mein Kampf“ auf die Literaturwissenschaft auszuweiten, Hinweisen auf deutsche Romantikmotive wie Schicksal, Vorsehung, Todesverklärung nachzuspüren. Kommen wir dadurch zu einer Neubewertung, die über das Bisherige hinausgeht?
Davon bin ich überzeugt. Ich habe ja selbst versucht, in diese Richtung zu schreiben und forscherisch unterwegs zu sein. „Mein Kampf“ stärker mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, bedeutet ja keineswegs, ihm ein Adelsprädikat zuzuweisen. Es schärft aber den Sinn dafür, warum das Buch nicht als gänzlich missglückter literarischer Abstecher aufgefasst wurde und sich der Autor nicht so blamiert hat, wie wir das heute mutmaßen.
Hitler hat ja viel eingesogen von dem, was im deutschen Bürgertum herumwaberte.
Er wettert nicht unbedingt gegen den Zeitgeist, sondern weiß sich im Einklang mit bestimmten, noch vagabundierenden Konglomeraten. Seine große Leistung besteht darin, diese Dinge auf den Punkt zu bringen. „Mein Kampf“ vereinigt ein breites Spektrum an politischen Ideenfetzen und schließt Ingredienzien ein, die weit über den Kreis der Nazis politikfähig sind – etwa die Ablehnung des Versailler Vertrages. Hitler erhebt den Anspruch, mit „Mein Kampf“ eine neue Weltanschauung zu entwerfen. Nehmen Sie Spenglers „Untergang des Abendlandes“ oder gehen Sie zurück bis Schopenhauer: Zu einer Zeit, als Religion das Privileg eingebüßt hat, die Welt erklären zu können und die Naturwissenschaft vieles dekonstruiert hat, ohne einen Gegenentwurf aus einem Guss präsentieren zu können, schlägt die Stunde der Weltanschauungsliteraten. Sie destillieren aus den vielen Wissensbeständen einen vermeintlichen Urgrund heraus. Für Hitler ist es die Rassenideologie, die er als Urgesetz ausmacht.
Nicht die Vernunft, der Wille entscheidet.
Alle Weltanschauungsliteratur geht vom Ich aus. Die eigene Lebensgeschichte verbürgt die Allgemeingültigkeit: Da macht einer eine Erfahrung, die jeder andere auch hätte machen können. Auch der erste Teil von „Mein Kampf“ ist autobiografisch, wobei Hitler seine Vita zu einer fiktiven Geschichte umschreibt. Er verlegt zum Beispiel seinen Weggang aus Wien um ein Jahr, erfindet sich also neu.
Auch als Politiker?
Er begreift das neue Format des Auftretens vor einem erwartungsvollen Massenpublikum als seine Chance. Er spürt: ein Nobody wie er kann eine Gefolgschaft um sich versammeln, wenn er der Politik einen ästhetischen Aspekt verleiht.
Wenn er sie also inszeniert.
Man kann mit Fug und Recht behaupten: Hier steigt einer an dem musikdramatischen Schaffen Richard Wagners geschulter Künstler auf die politische Bühne. Honoratiorenpolitiker empfinden einen fast natürlichen Widerwillen, ihre Botschaften massentauglich zu machen. Sie haben alle ein Kommunikationsproblem, Hitler nicht. Weil die Kunst es ihm erleichtert, den Zugang zu gewinnen.
Die Rede als Wagner-Oper im Kleinen?
Das Grundprinzip Wagners ist die Synästhesie. Dieses Kunstkonzept überführt Hitler in die Politik. Und er weiß, dass die Stimme im Verein mit Gestik und Mimik und der Wirkung des Raumes zu einer Situation führt, in der Überwältigungsstrategien angewandt werden können. Er hat ja 1932 mehr als ein halbes Jahr lang einen Sprachtrainer, sucht sich also professionellen Rat. Es gibt nur wenige, die wie er eine Rede als Gesamtkunstwerk betrachten.