Jochen Scherzinger, 34, lebt im Hübschental im Schwarzwald. Dort gründete er das Label „Artwood Black Forest“ im wohl abgelegensten Klamotten-Store Deutschlands.

Furtwangen - Da steht er, mitten in seinem Traum. Die Kapuze hat er tief ins Gesicht gezogen, es ist kalt. Das Haus wird seit Jahren nicht mehr beheizt. Aufrecht passt er gerade so in die alte Wohnstube seiner Großeltern. Wenn er die Arme ausstreckt, berührt er die Holzbalken, morsch und vom Rauch schwarz gefärbt. 1767 bauten sie im Schwarzwald keinen Kamin, der Qualm zog über einen Rauchfang durch die Räucherkammer und dann durchs Dach. Es riecht noch immer nach Speck. 432 Quadratmeter Wohnfläche, getränkt mit Erinnerungen.

 
Jochen Scherzinger Foto: Sebastian Wehrle

Hier ließ sich Jochen Scherzinger fast jeden Mittag von seiner Oma Hilde bekochen. Jetzt ist die Wohnstube leer, Löcher klaffen in der Tapete, vor der Haustür wuchert das Unkraut, und nicht überall halten die Dielen den Schritten stand. „Ich weiß, Leute würde sage, des musch’ abreiße“, sagt er im badischen Dialekt.

Jochen Scherzinger, 34, hat anderes vor. Er ist Modedesigner. Das Haus, rücklings im Hang hängend, es soll eines Tages sein neues Atelier werden. „Zur Schwarzen Hilde“ will er es zu Ehren seiner Oma nennen, und im alten Heulager sollen Kunden einmal Speck vespern.

Irgendwann nahm er eine der herausgebrochenen Holzdielen mit, schnitzte sie zu einem Schild und hängte es neben die Tür an seinem Elternhaus. Das liegt sieben Fahrminuten entfernt von der schwarzen Hilde, hier schaukelt die Holztafel wie ein Traumfänger im Wind.

140 000 Quadratmeter Scherzinger-Imperium

Hierhin ins Hübschental, mitten im Naturpark Südschwarzwald, ist Jochen Scherzinger vor vier Jahren zurückgezogen, um sein Modelabel Artwood Black Forest zu gründen. Den Weg erklärt er seinen Besuchern mit den Worten: „Wenn man denkt, es kommt nichts mehr, dann ist man richtig.“ Der Feldweg, der sich durch den Wald ins Hübschental schlängelt, wird im Winter nicht geräumt. Aus der Ferne verschwindet das Haus in einer Armee aus Tannen. 140 000 Quadratmeter Scherzinger-Imperium. „Opa Edmund sagte: Wenn ich aus’m Fenster schau, dann muss des alles mir gehöre.“ Auch in schweren Zeiten, als der Opa das letzte Stück Landwirtschaft aufgab, verkauften sie nicht einen Hektar.

Jochen Scherzinger geht jeden Tag auf den Spuren seines Großvaters. Ein sieben Kilometer langer Trampelpfad verbindet das Hübschental mit Furtwangen. Diese Strecke lief Opa Edmund jeden Tag zur Arbeit, schlug zu Fuß eine Schneise in den Wald. Edmunds Wegle nennen die Leute das Überbleibsel. Seit Jochen Scherzinger zu seiner Freundin nach Furtwangen zog, geht er diesen Weg täglich zu seinem Atelier ins Hübschental, hinterlässt auf den Spuren des Großvaters seine eigenen.

Jochen Scherzinger lächelt, wenn er von seinem Opa erzählt. In seiner tiefen Stimme klingt Stolz mit. Die Liebe zur Heimat, sie ist vielleicht sein wertvollstes Erbstück. Scherzinger ließ sie sich mit schwarzer Tinte in die Haut stechen. Ein verwunschenes Schwarzwald-Panorama ziert seinen kräftigen Unterarm, Tannen wachsen über seinen Ellenbogen hinweg in das Ziffernblatt einer alten Jagduhr auf seinem Oberarm. Seine Nase ist gepierct, sein kurz geschnittenes dunkles Haar meist von Hüten, Mützen oder Caps bedeckt. Aus der eigenen Kollektion natürlich, genauso wie der Kapuzenpulli. Ein dichter Schnäuzer formt ein Dreieck zwischen Nase und Oberlippe.

Er fläzt auf dem Sofa in seinem Atelier, es liegt im Erdgeschoss seines Elternhauses. Drei Bildschirme stehen auf dem meterlangen Schreibtisch, zusammen mit zwei Druckern, Akten und Kartons mit Visitenkarten. Nur die zwei Kleiderständer mit Lederjacken und auf Brett gepinnte Zeichnungen erinnern daran, dass hier Mode gemacht wird. Oder besser „Klamodde designt“, wie er sagt.

Ein Kampf gegen Klischees

Scherzinger entwirft Streetwear. Kapuzenpullis, T-Shirts, Hemden, Mützen, deren Schnittmuster er nicht selbst fertigt. Er wählt fertige Grundschnitte, solche, die er selbst gerne trägt. „Du musst das Rad nicht neu erfinden“ sagt er und deutet auf die Lederjacke am Kleiderständer. „Den Schnitt hab ich einem Herren-Blouson vom Vadder abgenommen.“ Die „Jockel-Jacket“ ist seine erste Jacke. Ärmel aus Kalbsleder, das Vorderteil aus Streublümlesamt, aus der Tracht der heimischen Narrenzunft. 389 Euro kostet das Teil. Produzieren lässt Scherzinger in der Türkei und in China statt im Schwarzwald. „Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich nicht kann.“ Es sei zu teuer, in Deutschland zu produzieren, sagt er. Die Kosten setzen auch den Lokalpatrioten den Zwängen der Globalisierung aus.

Von den gängigen Schwarzwald-Klischees von Bollenhut und Kirschtorte, grünen Wiesen und Sonnenschein hat er genug. „Der Schwarzwald steckt voller Geschichten, Bräuchen und Traditionen, das ist das, was ich den Leuten verkaufen will. Emotionen!“ Den sonst eher zurückhaltenden, fast schüchternen Designer durchfährt ein Ruck, wenn er so spricht – als wolle sich sein Körper gegen das Image des verschlafenen Schwarzwälders wehren. Seine Heimat sieht anders aus. „Der Schwarzwald ist düster, oft nass und kalt.“ Die Bewohner kantig, kraftvoll, ohne Kitsch. In seinen Kollektionen verarbeitet Scherzinger die Styles der Uhrenmacher, Holzfäller, Zimmerleute und Jäger. Stolze Männer.

Hätte sein Stil einen Sound, er klänge heroisch, episch, „ä weng romantisch“. Wenn Scherzinger für seine Kollektionen zeichnet, laufen Bach, Mozart und Soundtracks aus Monumentalfilmen. So laut, dass die Musik durch Mark und Bein geht und in den Adern pulsiert.

Viele seiner T-Shirts sind verziert mit alten Fotografien aus dem Familienalbum. Die Bilder stammen vom Onkel seines Vaters. Ganze Schuhkartons voller Negative hat er Jochen Scherzinger überlassen. Ein grauer Kapuzenpulli zeigt eine Zehnjährige auf einem Hügel im Gras sitzend, im Hintergrund ein altes Schwarzwaldhaus. Das Mädchen auf dem Bild ist Leonie, die Cousine seines Vaters, heute 89 Jahre alt. „Als sie den Pulli gesehen hat, hat sie Rotz und Wasser geheult.“

Der Weg zum Modemacher

Niemand in der Familie war überrascht, als er mit 26 beschloss, Modedesign zu studieren. „Jochen hat schon immer gern gezeichnet, Monster und Horrorfiguren, mit Filz-und Buntstiften“, erzählt sein Vater, Bernhard Scherzinger. „Und er wollte von klein auf adrett daherkomme.“ In der Grundschule schwänzte er einmal den Unterricht, weil seine Socken nicht zu seiner Hose passten. „Oft hat er auch meine Klamodde angezogen. Bei mir sahen die altbacken aus, bei ihm hip.“ Bernhard Scherzinger, 74, lacht, seine Backen färben sich dabei rosa. Auch er zeichnet, Landschaften mit Öl und Pastellfarben. „Des war immer des Höchste für mich.“ Doch der Mann mit grauen Schläfen und kräftigen Händen durfte als junger Mann keine Zeichnerlehre machen. Der Vater wollte, dass er in seiner Schreinerei anfängt, Werkzeugmacher lernt und ihm auf dem Hof hilft. „Damals hat man scho noch ernst genommen, was da Vadder sagt. Also nix mit Maler.“

Bernhard Scherzinger liebt das Kreative genauso wie sein Sohn. Er hat deshalb Verständnis für dessen Leidenschaft. Mit 16 hätten die Eltern ihn schon fast auf ein Modekolleg am Bodensee geschickt. „Damals war er noch zu jung, er hat sich nicht getraut, die Heimat zu verlassen.“ Stattdessen begann er nach der Schule eine Lehre als Werkzeugmacher. Bernhard Scherzinger ahnte: Das ist nichts für seinen Sohn. „Scho ich war doch in meinem Beruf unglücklich“, dachte er. „Er hat’s dann fertig gemacht, aber glücklich war er nicht.“

Jochen Scherzinger sagt heute, er habe mit dem Modedesign-Studium „gerade noch mal die Kurve gekriegt“. Er schmiss seinen Job als Werkzeugmacher und zog nach Mannheim. „Ich bin als Junge gegangen und kam als Kerle zurück.“ Im Studium outete er sich sofort als Schwarzwälder: Ob Sport, Outdoor, Haute Couture – wo er Freiheiten hatte, da hauchte er seinen Kollektionen ein Stück Schwarzwald ein. „Ich hab drei Jahre lang meinen Stiefel durchgezogen.“

Die Globalisierung und das Internet verändern die Branche

Mit einem Modelabel betrat Scherzinger im Schwarzwald Niemandsland. Gemeinsam mit einem Kumpel, der BWL studiert hatte, hatte er ein halbes Jahr einen Businessplan aufgestellt, Kollektionen, Bestellungen, Zielgruppen akribisch aufgelistet. „Das war eine Scheißarbeit.“ Am Ende der Odyssee finanzierte eine Bank die Pläne der beiden Jungunternehmer. Über die Höhe des Kredits will Scherzinger nicht sprechen.

Von seinem Kumpel trennte er sich zwei Monate später, das gemeinsame Arbeiten funktionierte nicht. Also biss er sich alleine durch. Zwei Freundinnen helfen ihm jetzt auf Minijob-Basis bei der Buchhaltung und dabei, Bestellungen zu verschicken. Die gehen in alle Himmelsrichtungen, quer durchs Land. „Nach Berlin, Hamburg, in den Pott, es gibt überall Exil-Schwarzwälder oder Schwarzwaldaffine“, sagt Scherzinger. Hauptabnehmer sind aber junge Leute aus der Region.

Der Traum vom Atelier

Die Branche ist hart umkämpft. Es ist riskant in diesen Tagen, ein neues Label zu gründen. Die Globalisierung und das Internet verändern die Branche. Viele Labels haben eine Halbwertszeit von weniger als drei Jahren. „So ein Label zu gründen, das ist ein Schuss ins Blaue“, sagt Scherzinger. „Du darfst dir keine Gedanken machen, was alles dranhängt. Wenn du vorher wüsstest, was auf dich zukommt, dann würdest du das nie machen. Ich bin aber so überzeugt von dem Konzept, das gibt mir so Rückenwind, mir bleibt keine Zeit zum Fürchten.“

250 Stück bestellt er pro „Style“. „Wenn’s keiner kauft, bin ich am Arsch.“ Bis jetzt vertreibt er seine Klamotten über seinen Online-Shop und in zwei Läden in Freiburg. Es läuft. „Ich würd’s merken, wenn’s meinem Baby schlechtgeht. Jetzt muss ich es gut füttern, es soll wachsen.“

Um sich den Traum vom Atelier „Zur Schwarzen Hilde“ zu erfüllen, bräuchte er eine halbe Million, mindestens. Ob er dort je einziehen wird, das weiß er nicht. Berühmt wolle er nicht werden mit dem, was er mache, sagt er. „Aber ich hätt’ es schon gern, wenn die Klamodde Kultcharakter bekommen – so wie der Schwarzwald.“