25 Jahre nach dem Fall der Mauer: Der StZ-Redakteur Martin Tschepe will während einer Biketour von Ahrensbök in Schleswig-Holstein bis nach Hof in Bayern erfahren, was sich entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs getan hat.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Ahrensbök - Hier also beginnt am Mittwochmorgen meine Tour entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: in Ahrensbök. Ahrens-was? Kaum jemand in Deutschland dürfe Ahrensbök kennen. Das Nest liegt hoch im Norden, etwa 25 Kilometer westlich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, dem Eisernen Vorhang, der im Herbst 1989 gefallen ist. Vor fast genau 25 Jahren.

 

Der 30. September ist ein kein schlechter Tag für den Start des Vorhabens. Vor ganz genau einem Vierteljahrhundert, am 30. September 1989, hat der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den DDR-Flüchtlingen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag verkündet, dass sie in den Westen ausreisen dürfen. Ein Wendepunkt in der jüngeren deutschen Historie.

Ahrensbök also. Der Hauptort der gleichnamigen Gesamtgemeinde hat rund 4000 Einwohner. Ahrensbök ist die viertgrößte Flächengemeinde in Schleswig-Holstein. Lübeck liegt ganz in der Nähe. Dass die Tour in Ahrensbök beginnt, ist purer Zufall. Hier habe ich am Dienstagabend das Load übernommen, ein Transportbike, das mich und mein Gepäck in den nächsten Tagen geschätzt 1200 Kilometer weit gen Süden begleiten wird, immer entlang der alten Grenze, bis nach Hof. Ahrensbök lag früher im sogenannten Zonenrandgebiet. Kommunen in diesem Areal Westdeutschlands wurden damals vom Bund speziell unterstützt, durch das sogenannte Zonenrandförderungsgesetz.

Gedenkstätte erinnert an dunkelstes Kapitel der Geschichte

Ahrensbök ist ein kein schlechter Ort um die Tour in die Vergangenheit der Republik zu starten. In Ahrensbök gibt es nämlich eine Gedenkstätte, die an einen grausigen Teil der deutschen Geschichte erinnert – und ohne diese Historie hätte es gar nicht zum Bau des „antikapitalistischen Schutzwalls“ durch die DDR kommen können. Denn ohne den Zweiten Weltkrieg, den Hitler-Deutschland angezettelt hat, wäre das Land weder besiegt und besetzt noch geteilt worden.

Die Gedenkstätte Ahrensbök erinnert an das „wilde Konzentrationslager“, das in dem Nest Ende 1933 von den Nazis im Direktorenhaus einer ehemaligen Zuckerfabrik untergebracht worden war. Durch Ahrensbök führte zwölf Jahre später – am 16. April 1945, wenige Tage vor der Kapitulation Deutschlands – der Todesmarsch von Auschwitz nach Holstein. Auf dem Friedhof in Ahrensbök gibt es ein Grab, in dem unbekannte KZ-Häftlinge bestattet sind. Auch daran erinnert die Gedenkstätte.

Eigene Erinnerungen an diese Jahre des Schreckens während des Zweiten Weltkriegs haben nur noch die wenigsten Menschen in Ahrensbök und Umgebung. Die Tage nach dem 30. September 1989 indes gehen vielen aus aktuellem Anlass durch den Kopf. Harald Klipp zum Beispiel. Er lebt in Mölln, ein paar Kilometer südlich von Ahrensbök. Er arbeitet seit vielen Jahren als Lokal- und Sportredakteur für den Ostholsteiner Anzeiger in Eutin, ein paar Kilometer nördlich von Ahensbök.

Großer Andrang nach der Grenzöffnung

Klipp sagt, die Fernsehnachrichten aus der DDR seien im Oktober und im November 1989 spannend gewesen. „Statt der Verlautbarungen aus dem Zentralkomitee der SED und der unendlichen Aufzählungen der Funktionäre, gab es Inhalte.“ Am 9. November habe aber nicht viel auf die Grenzöffnung hingedeutet. „Ich war beim Fußballtraining und habe kaum etwas mitbekommen.“ Am Tag darauf war der Journalist Klipp schon früh morgens beim Möllner Stadthaus. Er habe die rund 100 DDR-Bürger, die über die Grenze nach Mölln gekommen waren, gefragt, was sie vorhätten nachdem sie ihr Begrüßungsgeld von 100 D-Mark erhalten hatten. Die meisten hätten sinngemäß erklärt: „Wir wollen nur mal gucken, morgen sind wir wieder zurück und gehen zur Arbeit!“ Niemand dachte damals ernsthaft an eine schnelle Vereinigung der zwei Deutschlands.

Klipp: „Die nächsten Grenzübergänge waren Lübeck-Schlutup, der schon in den ersten Stunden total überlastet war, und der Transitübergang auf der A24 bei Gudow im Kreis Herzogtum Lauenburg.“ Er erinnert sich an „wahre Kolonnen von Trabis“ im westdeutschen Zonenrandgebiet. „Die Besucher und wir hupten und winkten uns zu.“ Schon in den ersten Tagen nach dem 9. November sei die alte Bundesstraße 208 wieder eröffnet worden. „Aus dem Schlagbaum wurde ein Übergang, an dem DDR-Soldaten an provisorischen Tischen Pässe stempelten und von den Bundesbürgern zehn D-Mark Zwangsumtauschgeld verlangten.“

In Ratzeburg waren damals alle Banken und die Kreissparkasse auch samstags und sonntags geöffnet, um die Besucherströme mit Begrüßungsgeld zu versorgen, auch Supermärkte waren offen, erzählt Klipp. Der Andrang der Kunden sei so groß gewesen, dass zeitweise der Aldi-Markt in Mölln kurz geschlossen werden musste – damit die Regale wieder mit Waren befüllt werden konnten. Nach dem Wochenende standen die Trabis mit beschlagenen Scheiben vor den Supermärkten, „offensichtlich hatten die Menschen in ihren Autos übernachtet, um morgens die ersten zu sein, die in den Supermärkten einkaufen konnten“. Viele Menschen in der DDR hätten ganz offenkundig genügend Geld gehabt. „Die Autohäuser erlebten einen wahren Boom.“ Die DDR-Bürger hätten ihre neuen Autos oft bar bezahlt, „das Geld brachten sie in Plastiktüten mit“.

Kategorisierung in Ost und West spielt keine Rolle mehr

Und heute, 25 Jahre später? „Ist davon nicht mehr viel zu sehen“, sagt Harald Klipp. Viele Unternehmen seien wegen der Wirtschaftsförderung nach Mecklenburg-Vorpommern abgewandert oder im neuen Nachbarbundesland neu angesiedelt worden. „Die Möllner Innenstadt verlor Attraktivität.“ Die Kategorisierung in Ost und West, sagt der aufmerksame Lokalredakteur, sei aber „kein Thema mehr“.

Am Mittwoch geht meine deutsch-deutsche Grenzerfahrung weiter – dann endlich auf dem Radsattel. Ich bin gespannt auf die Menschen, die ich während der kommenden Tage entlang des einstigen Todesstreifens treffen werde. Ich will ihre Geschichten erfahren.