Im Jahr 25 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fährt der StZ-Reporter Martin Tschepe mit seinem Fahrrad den Mauerweg ab, von Lübeck bis nach Hof. Am Spätnachmittag ist er im fränkischen Kronach angekommen.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Kronach - Die Radetappe von Bad Königshofen bis nach Kronach habe ich mir einfacher gemacht und den ein oder anderen Schlenker der alten Grenze weggelassen. Nach geschätzt fast 1000 Kilometern im Sattel muss man sich nicht mehr unbedingt jeden Wachturm und Erinnerungsstein ansehen. Trotzdem bin ich wieder an einigen vorbei gekommen.

 

Start am Morgen in Königshofen: Es wäre jetzt möglich, in der Frankentherme, die vom Radfahren dicken Waden im warmen Wasser zu entspannen oder das Museum für Grenzgänger zu besuchen. Doch der Tag beginnt aber wie alle anderen seit dem Start der Tour: mit Radfahren, einem Grenzübertritt - diesmal von Bayern nach Thüringen - und, wie könnte es anders sein, mit einem Gedenkstein.

Kurzer Halt hinter Alsleben

Direkt an der Grenze steht ein imposantes Kreuz, das ein Künstler aus altem Mauerzaun gefertigt hat. Daneben der Stein mit der Aufschrift „Stein Deutsche Einheit“. An dem Kreuz ist zu lesen: „1945 bis 1990, den Toten an der Grenze zum Gedenken, den Lebenden für die Zukunft zur Mahnung.“

Vorbei an einem alten Wachturm und durch eine der kleinsten Städte der ehemaligen DDR, Ummstadt. Anfang der Fünfzigerjahre hatten Bürger, die als politisch unzuverlässig galten, Ummstadt verlassen müssen. Später wurde ein Ortseil sogar komplett geräumt - die Staatsführung hatte Angst, dass die Bürger in den Westen türmen könnten.

Noch mal ein paar Kilometer weiter: Mauerreste. Kurzer Stopp in Bad Rodach in Bayern. Smalltalk mit der jungen Bäckereiverkäuferin, nein, sie könne nichts vom Mauerfall erzählen. Nach ein paar weiteren Grenzübertretungen erreiche ich schließlich das Etappenziel: Kronach. Die Dame an der Theke im Rathaus erzählt von den Tagen unmittelbar nach dem Mauerfall. Als zigtausende DDR-Bürger, die die Straßen verstopften, auch im Westen Schlage stehen mussten, um ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld zu bekommen. Die Leiterin der Lokalredaktion des Fränkischen Tags, Corinna Igler, Mitte der Achtziger geboren, weiß hingegen nur noch, dass sie damals ihren Papa gefragt hat: „Warum sind denn so viele komische Autos auf der Straße?“ Fast alle Parkplätze waren mit Trabis belegt.

Damals wurde auch in Kronach Weltgeschichte geschrieben

Der Besitzer des Hotels Sonne mitten in der Stadt berichtet, dass er unmittelbar nach dem Mauerfall viel mehr Gäste gehabt habe. Mittlerweile habe sich das östliche Bundesland aber gut entwickelt, die Sonne profitiere kaum mehr, nun sei die Gästezahl wohl wieder so wie vor der Wende.

Friedwald Schedel arbeitet wie Corinna Igler beim Fränkischen Tag in Kronach, er ist deutlich älter als seine Chefin, seit 1980 Redakteur, ein waschechter Frankenwälder, in Kronach geboren. Der Journalist Schedel war fast immer dabei, wenn 1989 und 1990 die rund zwei Dutzend Grenzübergängen im Landkreis Kronach geöffnet wurden. Es sei die arbeitsamste, aber schönste Zeit in seinem Berufsleben gewesen, „ich bin froh, dass ich das miterleben durfte.“ Noch heute bekomme er Gänsehaut, wenn er an diese Tage und Wochen denke, damals, sagt er, „wurde Weltgeschichte geschrieben“, auch im kleinen Kronach.

Beschädigungen an den Zügen wegen der Überlast

Die bewegendste Grenzöffnung im Landkreis sei für ihn die am Falkenstein gewesen, zwischen Ludwigsstadt in Bayern und Probstzella in Thüringen. Am 11. November 1989 kamen dort am Bahnhof viele Sonderzüge an. Mit Schweißbrenner und Flex hätten Arbeiter den Zaun geöffnet. Erinnern kann er sich noch an ein Foto, das er für die Lokalzeitung geschossen hat: ein „Durchfahrt verboten“-Schild mit der Aufschrift „Die Welt ist in Ordnung, wenn dieses Schild nicht mehr steht“.

Die Züge seien damals so überfüllt gewesen, dass die Lokführer wesentlich langsamer fahren mussten, es teilweise Beschädigungen an den Zügen wegen der Überlast gegeben habe. „Die Züge waren doppelt und dreifach überfüllt, sie waren länger als der Bahnsteig.“ Auch der Journalist hat noch die Bilder im Kopf von den Schlange stehenden DDR-Bürgern, vor dem Rathaus, vor der Sparkasse und vor der Post, wo das Begrüßungsgeld ausgezahlt wurde.

Wer an einem Donnerstagnachmittag wie diesem durch die fast leeren Gassen des Städtchens schlendert, dass seit der Wende rund 3000 Einwohner verloren hat, der kann sich kaum vorstellen, dass genau hier vor fast genau 25 Jahren die Party des Jahrhunderts gefeiert worden sein soll.