Bis zur deutschen Einheit waren Lokführer Beamte – und Arbeitskämpfe damit unmöglich. Heute wehren sich die Beschäftigten gegen die Folgen einer Privatisierungspolitik, von der weder Bahn noch Angestellte profitieren, analysiert Thomas Wüpper.

Korrespondenten: Thomas Wüpper (wüp)

Berlin - Die Aufregung über die Streiks der Lokführer ist groß, wenngleich jetzt wieder Verhandlungen im Vordergrund zu stehen scheinen. Die Politik, die über den Konflikt klagt, trägt selbst Schuld daran, dass es so weit kommen konnte. Erst die Privatisierung der Bundesbahn hat Streiks in diesem sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge ermöglicht.

 

Es ist richtig: Jeder Streik im Verkehrswesen trifft Reisende und Pendler hart – und ist deshalb ein Ärgernis. Von allen Seiten hagelt es Kritik an der Lokführergewerkschaft GDL und ihrem Chef Claus Weselsky. Viele sind sich einig: Das sind die bösen Buben. Doch diese Kritik greift zu kurz. Auch die GDL ist nur ein Getriebener der Bahnpolitik der letzten Jahrzehnte.

Bis zur Wende waren fast alle Lokführer Beamte

Noch bis zu deutschen Einheit waren fast alle westdeutschen Lokführer Beamte. Der Staat sorgte für gute Löhne und Arbeitsbedingungen – und im Gegenzug durften die Lokführer nicht streiken. Dieses regulierte System war für die Steuerzahler nicht billig, funktionierte aber. Kein Reisender blieb verärgert am Bahnsteig stehen, keine verfeindeten Gewerkschaften kämpften um Einfluss.

Nicht die GDL, sondern die Politik hat den Fahrgästen die Streiks eingebrockt. Mit der Bahnreform vor zwanzig Jahren wandelte die von Helmut Kohl (CDU) geführte Bundesregierung die Bundesbahn in eine Aktiengesellschaft um – und die zuvor fusionierte DDR-Reichsbahn gleich mit. Die Deutsche Bahn AG sollte künftig im Wettbewerb gegen Private bestehen und sogar an die Börse gehen. Alle neu eingestellten und die ostdeutschen Lokführer sollten nur ganz normale Beschäftigte sein. Diese Reform führte zum Systemwechsel.

Der Arbeitskampf deckt Systemfehler der Bahnreform auf

Denn wie ganz normale Beschäftigte organisierten sich die meisten Lokführer in einer Gewerkschaft. Die GDL setzte sich für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen ein, gewann immer mehr Mitglieder und erstritt einen eigenen Tarifvertrag bei der DB AG. Immer wieder griff die GDL dabei auch zum Mittel des Arbeitskampfes. Denn die beinharte Konkurrenz der Bahnen um Verkehrsverträge im deregulierten Markt wurde immer häufiger auch auf Kosten des Zugpersonals ausgetragen, das aber schlecht bezahlte Schicht- und Wechseldienste nicht mehr klaglos hinnehmen wollte und sich wehrte.

Der Arbeitskampf der Lokführer deckt somit Systemfehler und Paradoxien der Bahnreform auf. Natürlich trifft jeder Streik im Verkehrswesen Reisende und Pendler hart und ist deshalb ein Ärgernis. Jeder Stillstand auf der Schiene ist schon per se völlig unverhältnismäßig und inakzeptabel, wenn man die massiven Belastungen der Allgemeinheit und die wirtschaftlichen Schäden abwägt gegen die Einzelinteressen der Lokführer an besseren Löhne oder mehr Vertretungsmacht.

Warum man die Streiks nicht verbieten kann

Deshalb kann die logische Konsequenz nur lauten: Solche Streiks in sensiblen Bereichen der Daseinsvorsorge müssen vermieden werden. Verbieten kann man Arbeitskämpfe in einer Demokratie nicht. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will den Lokführern die Streiks aber erschweren, wozu das Gesetz zur Tarifeinheit dienen soll. Danach hätte letztlich nur die größere Gewerkschaft in einem Betrieb die Vertretungsmacht und das Streikrecht. Ein riskanter Weg, der wahrscheinlich vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird.

Viel besser wäre es daher, wieder anzuerkennen, dass Berufsgruppen wie Lokführer eine Sonderstellung haben und der Verkehrssektor als Bereich der Daseinsvorsorge wieder mehr eigene Regeln braucht. Gerne wird auch übersehen, dass es weitere Systemfehler der Bahnreform gibt, die eigentlich längst hätten beseitigt werden müssen. Dass es auch vor der Bahnreform Fehlentwicklungen gab, wie die Vernachlässigung der Bahn zu Gunsten des Autoverkehrs, steht auf einem anderen Blatt.

Verkehrsexperte fordert weniger teure Großprojekte

Der angesehene Verkehrsexperte Heiner Monheim kritisiert vor allem zwei unheilvolle Konstanten in der Bahn- und Schienenpolitik der letzten zwei Jahrzehnte: den Rückzug der Deutschen Bahn aus der Fläche, um Kosten zu sparen, und die Konzentration auf wenige teure Großprojekte wie Stuttgart 21, die wichtigere Investitionen in den dringend nötigen Ausbau der Regional- und S-Bahn-Netze blockieren. Seit 1994 sind danach 31 000 Kilometer Gleise weggefallen, zahlreiche Bahnhöfe und Haltepunkte verkauft oder geschlossen, ein Großteil der Güterbahnanschlüsse gekappt und zahlreiche Weichen und Überholgleise abgebaut.

Mit der Einstellung der Interregio-Züge hat die Bahn viele Zentren und sogar Landeshauptstädte vom Fernverkehr abgehängt. Gleichzeitig ließ die Verkehrspolitik das Straßennetz noch mehr ausbauen. All das habe das Bahnsystem systematisch ruiniert und extrem labil sowie verspätungsanfällig gemacht, urteilt Monheim. Weder im Personen- noch im Gütertransport habe die Schiene adäquat am Verkehrswachstum teilhaben können – und trotz des Sparkurses sei die Deutsche Bahn immer teurer geworden und wieder hoch verschuldet, lautet das Fazit des Professors.

Ein Netzausbau hätte Vorteile für Kunden und Umwelt

Dabei wären die Chancen des umweltschonenden Schienenverkehrs groß wie nie. Der rasche Ausbau überlasteter Bahnknoten von Hamburg über Hannover und Köln bis Mainz und Karlsruhe brächte enorme Vorteile für Millionen Fahrgäste und für die Umwelt, ebenso wie der Neubau und die Erweiterung von S-Bahn-Systemen in Ballungsräumen. Experte Monheim hält 6000 neue Haltepunkte im Bundesgebiet für nötig, um der Siedlungsentwicklung und Verstädterung der letzten Jahrzehnte gerecht zu werden und die erforderlichen 250 S- und Regionalbahn-Systeme attraktiv zu machen. Ein entsprechendes Investitionsprogramm könnte auch die Konjunktur ankurbeln. Am besten würde es verbunden mit einer zweiten Bahnreform zurück zu mehr Regulierung. Vorbild könnte die Schweiz sein mit ihren erfolgreichen Bundesbahnen.

Sogar in der regierenden CDU melden sich nun erste Politiker wie der Konstanzer Bundestagsabgeordnete Christian Bäumler zu Wort, die fordern, Lokführer wieder zu verbeamten und die Deutsche Bahn in eine „Bundesagentur für Mobilität“ umzuwandeln. Es wäre Zeit, endlich zu handeln. Doch wenig passiert.