Mit nur 22 Jahren starb die amerikanische Essayistin und Schriftstellerin Marina Keegan bei einem Autounfall. Nun ist ihr Nachlass auch auf Deutsch erschienen.

New York - Um die Zeit herum, in der Marina Keegan das College abschloss, mit knapp 22 Jahren also, schaute sie sich bei ihren Altersgenossen um und stellte einen verstörenden Trend fest. „Ich spüre ein Gefühl, das sich in unser kollektives Bewusstsein schleicht“, schrieb sie in einem Aufsatz für ihre College Zeitung, die „Yale Daily News“, „ein Gefühl, dass es irgendwie zu spät ist. Dass uns irgendwer voraus ist, mehr erreicht hat, spezialisierter ist. Dass es zu spät ist, neu anzufangen, und dass wir auf dem eingeschlagenen Weg weiter machen müssen.“

 

All diesen Altersgenossen, die sich schon mit 22 Jahren im gnadenlosen Karrierewettbewerb sahen, denen die Jugend und die Frische abhanden gekommen ist, Dinge auszuprobieren, die ihre Neugier auf die Welt verloren haben, wollte Marina Keegan entgegen schreien: „Wir sind so jung. Wir können, wir dürfen unseren Sinn für die unbegrenzten Möglichkeiten des Lebens nicht verlieren, denn am Ende ist das alles, was wir haben.“

Das war im Mai 2012. Heute lesen sich die Zeilen schmerzlich bitter. Marina Keegan starb nur Tage später bei einem Autounfall. Ihr Freund war bei einem Ausflug am Steuer eingeschlafen, das Fahrzeug kam von der Fahrbahn ab. Ihr Freund blieb dabei unverletzt.

Der plötzliche Tod der 22 Jährigen machte den Essay in der Campuszeitschrift, der sich ohnehin schon im Netz wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, erst Recht zu einem Manifest. Marina Keegan ist zur Stimme einer Generation geworden, die viel stärker als wir älteren darum ringen muss, gegen Konformitätszwang anzukämpfen und Individualität zu gewinnen.

Texte, die das Land diskutierte

Der Abschlussaufsatz war allerdings nicht das erste Mal, dass Keegan sich laut über Altersgenossen beklagt hatte, die freiwillig auf ihre Freiheit zur Entfaltung und zum Experimentieren, ja zum Leben, verzichten. Monate zuvor hatte sie, ebenfalls in der Campus-Zeitung, einen Text veröffentlicht, der im ganzen Land diskutiert wurde. Sogar die „New York Times“ druckte ihn später in voller Länge ab.

Der Text war eine Klage darüber, dass so viele ihrer Kommilitonen an einer Eliteuniversität des Landes auf die Wall Street stürmen. Rund 25 Prozent jedes Jahrgangs sind es, die sich einer Investmentbank oder einem Hedgefonds anschließen. „Dabei“, schrieb Keegan, „kann ich mich an keinen einzigen erinnern, der zum Studienbeginn davon geträumt hat, einmal Banker zu werden. Was ist denn da passiert in den vier Jahren?“ Marina Keegans Antwort war beinahe noch deprimierender als die schiere Tatsache des Rekrutierungs-Erfolges der Geldinstitute.

Der Lockruf der extrem hohen Gehälter, so Keegan, sei nur ein Aspekt dieser Geschichte. Der Kern des Problems sei schlicht Trägheit. „Die meisten von uns“, schrieb Keegan, „haben nicht die geringste Ahnung, wie man einen Job kriegt oder danach sucht.“ Genau das beuten die Banken skrupellos aus. Sie kommen auf die Campus der Eliteuniversitäten, laden die Studenten zu Veranstaltungen mit „Hundert-Dollar-Designer-Popcorn“ ein und rollen den roten Teppich aus. Man muss nur noch unterschreiben, um seinem eigenen Anspruch und dem der Eltern an Erfolg zu genügen. Etwas Bedeutsames mit seinem Leben anzufangen, etwas wofür man eine Leidenschaft empfindet, wird auf einen späteren Lebensabschnitt verschoben.

Marina Keegan hat versucht einen entgegengesetzten Entwurf zu leben. Sie hat ihre Leidenschaften nicht auf die Zeit verschoben, nachdem sie bei einem Hedgefonds die ersten zehn Millionen verdient hat. Sie hat in der Occupy-Bewegung gekämpft und sie hat geschrieben – viel und gut geschrieben.

Die Karriere war sicher

Noch während sie zur Uni ging, veröffentlichte Marina Keegan Kurzgeschichten und Essays im renommierten Intellektuellenblatt „New Yorker“. Zwei ihrer Theaterstücke wurden in New York an Off-Broadway-Theatern aufgeführt. Für die Zeit nach dem Abschluss wartete ein Redakteursjob beim „New Yorker“ auf sie. Sie hätte Karriere gemacht, ganz gewiss, und das obwohl genau das eigentlich nicht ihr Ziel war.

Aus den Trümmern des Autowracks, in dem Marina Keegan starb, fischten ihre Eltern ihren Laptop. Auf der Festplatte gespeichert lagerte ihr Nachlass – eine Sammlung an Kurzgeschichten und Aufsätzen, die jetzt als Buch erschienen sind. Es sind Geschichten über das Erwachsenwerden, über Liebe, Lust und Eifersucht, Unsicherheiten, Zukunftsängste. Sie schreibt vom Hang der Menschheit, sich selbst zu Zerstören aber auch von Freundschaft und vom Tod.

So meditiert sie in der Short-Story „Cold Pastoral“ über das plötzliche Ableben eines Geliebten. „Zu seinen Lebzeiten war sein größter Fehler, dass er mich gerne gehabt hat. Jetzt, im Tod, wurden seine Perfektionen deutlicher.“

Keegan war als Schriftstellerin noch nicht perfekt, sie war noch zu jung, zu unausgereift. Aber sie hatte zweifelsohne ein immenses Talent. Es ist eine Tragödie, dass sie es niemals entfalten durfte. So bleibt ihr Vermächtnis, ihren Altersgenossen auf die Füße getreten zu haben, sie angestachelt zu haben, mehr mit sich anzufangen, als ausgetretenen Pfaden zum konventionellen Erfolg zu folgen. Das ist viel, aber gleichzeitig tragischerweise viel zu wenig.