Beleidigungen im Internet, kiloweise Post, SMS-Belästigung: Mary Scherpe ist eine von geschätzt 600 000 Stalking-Opfern in Deutschland. Sie wehrt sich: mit einem Blog, in ihrem neuen Buch und mit einer Online-Petition.

Stuttgart - Es begann mit einem vorgeblich satirisch gemeinten Account beim Onlinebilderdienst Instagram und steigerte sich zu einer Flut an E-Mails, SMS, anonymen Anrufen und kiloweise Post im Briefkasten. Irgendwann muss die Berliner Bloggerin Mary Scherpe sich eingestehen, dass hier kein lästiger Troll unterwegs ist, sondern ein Stalker. Er ruft sie mitten in der Nacht an, versucht, sie bei Freunden und Geschäftspartnern schlechtzumachen, hinterlässt beleidigende Kommentare auf ihrem Blog, bestellt ihr Werbematerialien und sogar schwere Gegenstände nach Hause. Scherpe verbringt viel Zeit damit, ihre Adresse bei Firmen sperren zu lassen, die Angriffe zu dokumentieren und zur Polizei zu tragen, um den Stalker anzuzeigen. Genutzt hat es ihr bis zum heutigen Tage nichts. Trotz mehrmaliger Anzeige und eines klaren Verdachts wurde der Täter nicht zur Rechenschaft gezogen.

 

Mary Scherpe. Foto: dpa
Scherpe ist dabei mit ihrer Geschichte kein Einzelfall. Schätzungsweise 600 000 Frauen und Männer werden alleine in Deutschland Opfer von Stalking. Manche bekommen „nur“ E-Mails oder Briefe, andere werden regelrecht verfolgt und leben in permanenter Angst. Viele von ihnen sind Frauen, oft steckt ein ehemaliger Partner hinter den Attacken. Bereits im Jahr 2003 stellte sich bei einer repräsentativen Umfrage des Mannheimer Zentralinstitutes für seelische Gesundheit heraus, dass mehr als elf Prozent der Befragten schon einmal Opfer eines Stalkers geworden waren.

Stalking-Opfer fühlen sich alleingelassen

Viele von ihnen haben eins gemeinsam: Sie fühlen sich auf sich gestellt und alleingelassen, denn die Behörden können meistens trotz einer Anzeige nichts tun, um den Täter zu stoppen. Ein Eindruck, den Edith Eva Tholen aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Die Bremerin, die als Coach und Konfliktmanagerin arbeitet, hat im Jahr 2004 mit Hilfe der Bremer Polizei eine Selbsthilfegruppen für von Stalking betroffene Frauen gegründet, die als die erste Gruppe in Deutschland gilt.

Tholen wünscht sich vor allem besser informierte Polizeibeamte, Richter und Staatsanwälte, aber auch Ärzte oder Psychologen. Es sei unglaublich, was den Betroffenen manchmal geraten würde. Die Gesetzgebung ist ihrer Meinung nach ausreichend – wenn die Gerichte davon Gebrauch machen würden. Leider, so Tholen, nähmen aber viele Richter Stalking-Fälle und das Leid der Betroffenen nicht ernst genug und verhängten viel zu geringe Strafen, die den Stalker nicht davon abhielten, weiterzumachen.

Gefordert wird eine Gesetzesänderung

Stalking ist hierzulande ein sogenanntes Erfolgsdelikt. Die Tat ist erst dann strafrechtlich zu verfolgen, wenn sie auch wirklich zum „Erfolg“ gebracht wird. Das bedeutet: das Stalking muss eine „schwerwiegende Beeinträchtigung“ des Opfers verursachen. Wann genau diese vorliegt, entscheidet ein Gericht. Die Forderung, Stalking zu einem sogenannten Eignungsdelikt und damit leichter verfolgbar zu machen, ist nicht neu, wurde in Deutschland aber bisher nicht umgesetzt.

Stalkingopfer müssen sich weitestgehend selbst helfen. Mary Scherpe hat dies getan, indem sie erst auf einem Blog und jetzt in ihrem Buch „An jedem einzelnen Tag“ ihre Erfahrungen mit dem Stalker aufgeschrieben und dokumentiert hat. „Mit dem Blog hatte ich eine Art virtuelles Schild, seine Angriffe blieben daran kleben“, erklärt sie. Andere Opfer organisieren sich wie Edith Eva Tholen in Selbsthilfegruppen oder tauschen in Internetforen Erfahrungen und Tipps aus. Für einige der Opfer ist die Bedrohung so real geworden, dass sie gezwungen sind, umzuziehen und die Arbeitsstelle zu wechseln.

Mit der zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft hat sich eine neue Form des Stalkings entwickelt, das sogenannte Cyberstalking. Dabei nutzt der Stalker die Möglichkeiten des Internets, um sich dem Opfer zu nähern und es zu bedrohen. Die Täter bedienen sich hierbei ganz gezielt moderner Verschlüsselungstechniken, um ihre Identität zu verschleiern und sich vor Strafverfolgung zu schützen.

Anwälte empfehlen eine Zivilklage

Egal, in welcher Form das Stalking geschieht, ob durch tatsächliche Verfolgung, nächtliche Anrufe oder Beleidigungen im Internet, es dient einem Zweck: das Opfer einzuschüchtern, zu bedrohen und zu schädigen. Viele Stalker verstummten, wenn die Polizei zum ersten Mal vor ihrer Tür stehe, so hat ein Opferanwalt festgestellt. Deswegen helfe es nach seiner Erfahrung oft, zivilrechtliche Schritte gegen den Täter einzuleiten, ihn also beispielsweise wegen Beleidigung oder Geschäftsschädigung anzuzeigen. Hierbei seien die Erfolgsaussichten größer als bei einer Anzeige wegen Stalkings. Edith Eva Tholen hingegen sagt, dass man die Vorgehensweise immer vom konkreten Fall abhängig machen müsse. Die Sicherheit des Opfers müsse dabei an erster Stelle stehen.

Mary Scherpe indes möchte eine Änderung des Stalking-Paragrafen 238 erreichen und hat kürzlich zu diesem Zweck eine Petition gestartet, die bereits nach wenigen Tagen von mehreren Zehntausend Unterstützern unterzeichnet wurde.