Der Rückzug der Truppe aus Afghanistan ist die größte Operation, die die Bundeswehr jemals geplant hat. Von der Dimension lassen sich die Planer im Einsatzführungskommando aber nicht schrecken, und auch nicht von der Geschichte.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Potsdam - Wären sie Politiker, dann würden Gerald Funke und Ruprecht von Butler wahrscheinlich etwas sagen wie: zwischen sie beide passe kein Blatt Papier. Aber sie sind keine Politiker, sondern zwei Oberste, die sich auf ihre Arbeit konzentrieren und nicht auf die Verkäufe achten. Sie sitzen in bundeswehrtypischem Flecktarn in einem Gebäude am Schwielowsee in Brandenburg und planen nichts weniger als die größte Operation der Bundeswehr in ihrer Geschichte. Seit dem Zweiten Weltkrieg. Das hat der Inspekteur der Streitkräftebasis, Manfred Nielson, so gesagt. Das Etikett ist bombastisch, und es will den zwei Soldaten, die die Operation planen, nicht recht gefallen.

 

Es geht um den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Also letztlich um das Ende des größten und blutigsten Einsatzes, den die Bundeswehr bisher zu bestehen hatte. Er dauert bereits länger als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen. Nun hat die Staatengemeinschaft das Ende für 2014 festgesetzt.

Es hat sich auch jede Menge Geschichte angesammelt, seit diese Mission im Januar 2002 begann. Mit einer Panne, wenn man so will. Weil Winter war und die holländischen Herkules, die den ersten Trupp Bundeswehrsoldaten mangels geeigneter eigener Transportflugzeuge nach Bagram fliegen sollten, wetterbedingt ausgebremst wurden und tagelang in der Türkei festsaßen. Eine Lachnummer schien das, wie die in fünfzig Jahren Blockkonfrontation friedensverwöhnte Bundeswehr an der Seite der USA in den Antiterrorkampf gegen Al-Kaida stolperte. Es war kurz nach den Anschlägen auf New York und Washington. Heute muss man es wieder in Erinnerung rufen: Al-Kaida war damals der Angstgegner der westlichen Welt. Ein Missverständnis war das mit der Panne, würden Funke und von Butler beim Einsatzführungskommando in der Nähe von Potsdam wohl dazu sagen. Dass das Wetter die Flughöhe, die Reichweite und den Spritbedarf jedes Flugzeugs beeinflusse. Dass der Hindukusch bei der damaligen Witterung für die Herkules quasi naturgesetzlich und ganz ohne Tölpelei einfach unüberwindbar war.

Eine Panne markierte den Anfang

Der Afghanistaneinsatz war Neuland in jeder Hinsicht. Politisch war es das erste Mal, dass die Nato den Bündnisfall ausgerufen hat. Operativ war es eine der ersten Missionen zur Friedenserzwingung außerhalb des Nato-Gebiets. Der Einsatz hat Worte wie „Gefallener“ und „Krieg“ wieder in Erinnerung gerufen. Sie sind wieder in den aktiven Sprachgebrauch integriert. Mittlerweile hat man in Deutschland begriffen, dass die Bundeswehr mitnichten als einzige Armee Transportflugzeuge ausleihen muss. Spätestens seit die Bundesregierung das Signal zum Rückzug geblasen hat, sickert ins öffentliche Bewusstsein, dass alle Armeen auf die 25 bis 30 russischen Riesenflieger vom Typ Antonow oder Iljuschin zurückgreifen, die auf dem Weltmarkt zu chartern sind, um schweres Gerät zu transportieren.

Natürlich erinnern sie sich im Einsatzführungskommando ziemlich gut an die Anfangszeit. Unvergessen ist, wie der damals für Logistik zuständige General Erhard Drews im Heeresführungskommando für Afghanistan nicht einmal einen Silberstreif am Horizont erkennen konnte. „Es fängt schon damit an: es gibt dort keinen Hafen“, ist als Spruch von ihm überliefert.

Jaja, räumt von Butler im Gespräch eher widerwillig ein. Natürlich habe man die Truppe damals Zug um Zug nach Afghanistan verlegt. Natürlich sei der Einsatz erst im Lauf der Jahre größer geworden. Natürlich sitze man jetzt auf einem ganzen Berg von Material, das etwa 6000 Container füllen werde. 1700 „Fahrzeuge“ vom Jeep bis zum Panzer kommen noch dazu. Dingos, Mungos, Marder, Panzerhaubitzen – keiner hat nur Kleinwagenformat.



Längst hat in den afghanischen Bundeswehrstandorten die verschärfte Inventur begonnen. Bei jeder Schraube wird geprüft, ob sie wieder zurückmuss. Alles was verzichtbar und ungefährlich ist, soll im Land bleiben. Immerhin eines gibt von Butler zu: natürlich müsse die Rückverlegung jetzt als Ganzes geplant werden, und das sei anders als am Anfang des Isaf-Einsatzes. Damals hat die Bundeswehr einen Fuß vor den anderen gesetzt und ist Jahr um Jahr weiter hineingezogen worden in das riesige Land und in seine Konflikte. Aus der Vorhut von siebzig Mann wurden Tausende Soldaten. Aus einem Feldlager wurden fünf Standorte, aus Zelten Container, aus leichter Bewaffnung wurde schweres Gerät.

Das Etikett mit der historischen Dimension gefällt von Butler dennoch nicht. Er beharrt darauf: „Als die Bundeswehr 2002 nach Afghanistan reinging, war das ein großer Schritt in unbekanntes Gelände. Heute kennen wir uns dort aus. Wir haben feste Transportrouten und Verträge. Jede Woche fliegen Flugzeuge nach Afghanistan. Es gibt eine eingespielte Praxis für alles, was notwendig ist. Deshalb halte ich das Rausgehen für einfacher als das Reingehen in der Anfangsphase.“ Von Butler und Funke sind ein eingespieltes Team. Nicht nur weil sie in letzter Zeit vielen Journalisten Rede und Antwort stehen mussten, die sich alle nicht mehr für die Einsatzrealität, sondern nur noch für den Abzug der Soldaten interessierten. Der Logistiker Funke und der fürs Operative zuständige von Butler arbeiten sowieso Hand in Hand, weil der Einsatz das verlangt.

Probleme gibt es nicht, nur Herausforderungen

Sie würden es so nicht sagen. Aber deshalb geht den beiden die öffentliche Fixierung auf den Truppenabzug gegen den Strich: Als ob am Hindukusch nichts anderes mehr passierte! Schon das Wort Rückzug kommt ihnen nicht über die Lippen. Weil es zu sehr nach holterdiepolter oder Flucht klingt und nicht dem entspricht, was sie planen: Den Rückzug so zu organisieren, dass er den laufenden Militäreinsatz bis zum letzten Tag möglichst nicht behindert. Deshalb wollen die beiden den Abzug auch nicht als isolierte, sondern als integrierte Aufgabe betrachtet wissen. „Als für die Logistik zuständiger Offizier schaue ich zuallererst auf den Kameraden, der fürs Operative zuständig ist. Der sagt mir, was er braucht und nicht zur Rückverlegung frei geben kann“, hält Funke fest.

Vielleicht fürchten die beiden auch ein weiteres Missverständnis über die Truppe am Hindukusch: den Eindruck, dass in den Lagern dort alle nur noch auf Tag X warten, seit die Regierenden der Isaf-Truppen das Rückzugsdatum festgelegt haben. „Unsere Hauptaufgabe wird bis zum Schluss sein, die afghanischen Sicherheitskräfte zu unterstützen“, betont von Butler deshalb energisch. „Bis zum Ende des Einsatzes werden maximal zehn Prozent der Soldaten mit dem ‚Redeployment‘, wie wir die Rückverlegung nennen, beschäftigt sein. Neunzig Prozent werden Schutz- und Unterstützungsaufgaben haben.“

Ein 6000 Kilometer langer Heimweg

Worte wie schwierig, komplex, knifflig oder gefährlich kommen weder dem einen noch dem anderen über die Lippen. Immerhin lässt Gerald Funke sich schließlich entlocken, dass es „schon eine Herausforderung ist, all das Material, das wir in mehr als zehn Jahren nach Afghanistan transportiert haben, innerhalb von zwei Jahren wieder herauszuholen“. Man kann das eine Untertreibung nennen. Schließlich ist der Heimweg etwa 6000 Kilometer lang. Schließlich versperren die Topografie und die politischen Verhältnisse viele Wege aus Afghanistan heraus. Der Iran scheidet als Partner der Nato wegen des Atomkonflikts aus. Auch Pakistan ist ein mehr als unsicherer Kantonist. Sogar der eine oder andere zentralasiatische Staat könnte schnell zur No-go-Zone werden.

Und schließlich wollen nicht nur die Deutschen, sondern auch die anderen fünfzig Truppensteller den Großteil ihrer Soldaten abziehen, und endlich tun derzeit etwa 130 000 Soldaten aus aller Welt in Afghanistan Dienst. Die Zahl der Container, die in einem kurzen Zeitraum abtransportiert werden sollen, wird von Experten jenseits der 100 000er-Marke angesiedelt. 70 000 internationale Militärfahrzeuge sind am Hindukusch unterwegs. Und einen Hafen hat Afghanistan immer noch nicht.

Vorsichtig hat der Inspekteur Manfred Nielson darauf hingewiesen, dass es für den Rückzug keine Blaupause gibt. Die wichtigsten Schneisen zur Planung dieses unübersichtlichen Großprojekts haben Funke und von Butler dennoch schon geschlagen. Der Bundeswehrstützpunkt in Masar-i-Scharif wird zur Drehscheibe für den Abzug. Die Masse der Güter soll den Landweg nehmen – über Usbekistan und quer durch Russland bis irgendwo an die Ostsee, von wo aus die letzte Etappe per Schiff zurückgelegt werden soll. Weitgehend mit der Eisenbahn sollen die Container, aber „keine militärisch relevanten Güter“ wie zum Beispiel Waffen transportiert werden. Sie müssen als „Gefahrgut“ per Luftfracht versandt werden. Die Charterfirmen, die die knapp dreißig russischen Antonow und Iljuschins zu ihrer Flotte zählen, können auf dicke Auftragsbücher und satte Gewinne hoffen. Ihre Kapazitäten sind das Nadelöhr für die Operation Rückverlegung.

Auch deshalb denkt Gerald Funke nicht an eine Flugroute, die bis Deutschland reicht. Ziel ist eine Hafenstadt mit Flughafenanschluss am Schwarzen Meer. Ab da wird verschifft. Die Verhandlungen über den Ort laufen noch, Funke und von Butler sind zuversichtlich, dass sie ein gutes Ergebnis hinbekommen. So schwierig, das ist ihre Botschaft, wird das nicht mit dem Truppenabzug. Militärisches Handwerk sei das, wie anderes auch. Die Bundesregierung hat zwar noch nicht festgelegt, wie und mit wie viel Mann es nach dem Abzug der Kampftruppen in Afghanistan genau weitergehen wird, und das würde den beiden Planern enorm weiterhelfen. Doch eine Chance, dass diese Festlegung vor der Bundestagswahl kommt, gibt es nicht. Also planen Funke und von Butler mit der Ungewissheit. Ob sie wissen, dass Verteidigungsminister Thomas de Maiziere auf dem Nato-Gipfel in Chicago Clausewitz zitiert hat, wonach ein Rückzug das Komplizierteste ist, was es gibt? Leicht sei die Aufgabe nicht, aber sie hätten das gelernt, sagt Ruprecht von Butler. „Wir haben deshalb keine schlaflosen Nächte. Wir kriegen das hin.“