Links führt ein schmaler Gang noch tiefer in das Innere des Bahnhofs zu einem weiteren Gewölbe, das sich plötzlich überraschend vor einem auftut. Durch den Saal von der Größe eines Münchner Bierkellers schlängelt sich die endlose lange Theke der Oyster Bar. Dutzende von Austernsorten vom Fulton Fischmarkt in der Bronx warten dort auf Eis in Holzkisten darauf, bei einem Champagner oder einem Martini zum Abschluss eines Multimillionen-Dollar-Deals oder auch nur zu einem raschen Rendezvous geschlürft zu werden.

 

Ganz vermag jedoch auch der neue, auf Hochglanz polierte Prachtbahnhof nicht die sozialen Realitäten der Stadt zu verschleiern, deren Büros er täglich mit energiegeladenen, aufstrebenden Arbeitskräften speist. Auf den Stühlen in der Wartehalle im Tiefgeschoss sitzen an einem kalten Wintertag zusammengekauerte Gestalten, die ihr Hab und Gut in Plastiktüten mit sich schleppen, und wärmen sich auf. Am Rande der Haupthalle stehen Männer in Lumpen an die Theke von geschlossenen Fahrscheinschaltern gelehnt und tun so, als läsen sie Zeitung. So lange sie sich nicht auf dem Boden breit machen oder betteln, so lange sie das Bild nicht stören und niemanden belästigen, lässt man sie in Ruhe.

Präsident Roosevelt hatte einst ein eigenes Gleis

Vor der Oyster Bar amüsieren sich derweil Jugendliche mit der Flüsterecke, einem der vielen Geheimnisse von Grand Central. Der Schall schleicht hier die Fließen der gewölbten Decke entlang bis auf die andere Seite des Raums. So können sich Liebhaber quer durch die Halle Zärtlichkeiten sagen, ohne das jemand anderes mithören kann.

Andere Geheimnisse des alten Bahnhofs mit seinem unendlichen Labyrinth an Gängen und Gewölben: vom Informationspavillon mitten in der Haupthalle führt eine Wendeltreppe zu einem unterirdischen Gang nach außen; auf der Westseite des Bahnhofs, von der Vanderbilt Avenue aus, gelangt man über eine Treppe in das Campbell’s Apartment unter dem Dach des Bahnhofs, einer voll eingerichteten Wohnung im Stil einer Florentiner Villa des 13. Jahrhunderts. Hier gab einst der Industrielle John D. Campbell seine Gesellschaften, bevor er mit dem Zug zurück zu seinem Anwesen am Hudson fuhr. Bis heute kann man dort unter seiner barocken Kastendecke zum Tagesausklang einen Cognac nehmen. Schließlich: das unterirdische tote Gleis, das einst für Präsident Roosevelt gebaut wurde, damit dieser unbemerkt in die Stadt kommen konnte. Bis heute führt von dort aus ein Aufzug direkt in seine einstige Privat-Suite im Waldorf Astoria.

Im Informationspavillon in der Mitte der Haupthalle gibt der uniformierte Bedienstete so rasch und exakt Auskunft, dass die Kunden vor seinem Gitter sowie die Schlange hinter ihnen praktisch niemals zum Stehen kommen. „Der Zug nach Chappaqua um 9.45 Uhr, Gleis 15. Der Nächste!“ – „Stadtpläne im Kiosk am Durchgang zur Lexington Avenue. Der Nächste!“ – „Nach New Jersey wollen Sie? Da sind Sie am falschen Bahnhof, Sie müssen mit der U-Bahn-Linie 7 zur Pennsylvania Station fahren.“ Nicht ein einziges Mal muss er etwas nachschauen, während er in gleichbleibend ruhigem Tonfall alle nur erdenklichen Fragen beantwortet und dazwischen kaum einmal Luft holt.

Wenn der Pendlerstrom abebbt, kommen die Shopper

Erst als gegen zehn Uhr am Vormittag der Menschenstrom abebbt, ist es möglich, innezuhalten und die ganze Pracht des Beaux-Arts-Baus auf sich wirken zu lassen, der am 2. Februar hundert Jahre alt wird. Aus 20 Meter hohen, schlanken Bogenfenstern an der Ost- und Westseite der Halle fällt schräg das Licht auf den polierten Sandsteinboden, der sich Tausende von Quadratmetern weit ausbreitet. Die Fahrscheinschalter an der Nordseite sind mit verschnörkelten Messinggittern verziert, und über dem Pavillon in der Hallenmitte thront die berühmte vierblättrige Uhr aus Opalglas, deren Wert auf 20 Millionen Dollar geschätzt wird. Die Gleise, zu denen niedrige Rundbögen führen, sind tief unter der Erde versteckt. 67 sind es, so viele wie in keinem anderen Bahnhof der Welt, doch von hier oben aus ist von lautem Bahnverkehr und hässlichen modernen Zügen weit und breit nichts zu sehen.

Es ist kaum zu fassen, dass noch vor 20 Jahren Grand Central ein schmuddeliges Asyl für Obdachlose und Drogenabhängige war. Das Schrumpfen des Bahnverkehrs zu Gunsten von Flugzeug und Automobil hatte die Instandhaltung des einstigen Palastes des modernen Fernverkehrs mit seinen nach dem zweiten Weltkrieg immer schwieriger gemacht. Die damalige Finanzkrise der Stadt tat ihr Übriges. Ende der Sechziger drohte dem Prachtbahnhof der Abriss. Doch eine Bürgervereinigung unter Führung von Jackie Onassis stemmte sich gegen die Abrissbirne und klagte vor dem Obersten Gerichtshof erfolgreich den Denkmalschutz für das Gebäude ein, dessen Fassade mit der Hermes-Statue seit eh und je die Park Avenue überstrahlt. Mitte der Neunziger, als die Stadt in Geld schwamm, restaurierte die Bahngesellschaft MTA das Gebäude für 250 Millionen. Es war nicht schwer, die Mittel aufzubringen, schließlich bedient der Bahnhof die Pendler aus den wohlhabenden Vororten von Westchester County.

Es gibt Lachs aus Alaska und Olivenöl aus der Toskana

So ist Grand Central heute ein Palast, dessen Prunk die ganze Macht der Wirtschaftskapitale New York ausstrahlt. Jetzt, zwischen Morgen-Rushhour und Lunch, wird Grand Central immer weniger Verkehrsknotenpunkt und immer mehr eines der vornehmsten Einkaufs- und Dienstleistungszentren von Manhattan. In der Ostlobby, einer kleinen Halle nahe dem Ausgang zur Lexington Avenue, gönnt sich ein Geschäftsmann eine kleine Arbeitspause am Vormittag. Er hat sich in einem der ausladenen Ledersessel der Schuhputzer dort niedergelassen, die Boulevardzeitung „Daily News“ auf seinem Schoss ausgebreitet, und lässt sich seine hellbraunen Lederslipper für drei Dollar polieren. „Spit and Cream“ heißt die Behandlung, aus der Zeit, als die Schuhputzer tatsächlich noch mit Spucke arbeiteten.

Zwischen der Haupthalle und der Lexington Avenue werden die Auslagen des Grand Central Market, einer der feinsten Lebensmittelmärkte der Stadt, auf den Shopping-Ansturm zur Mittagspause hergerichtet. Unmengen von Forellen aus Idaho und Lachsen aus Alaska, Schinken aus Tirol, Pecorino und Olivenöl aus der Toskana und Champagner aus der Champagne warten appetitlich drapiert auf die verwöhnten Shopper. Gleichzeitig bereiten sich im Tiefgeschoss die Lebensmittelstände und Schnellrestaurants auf die Lunch-Zeit vor. Bei Hale and Hearty Soups dampfen aus mindestens drei Dutzend Töpfen ebenso viele Suppensorten, daneben bietet die Brooklyner Traditionsgaststätte Junior’s ihren berühmten Käsekuchen an. Dazwischen kann man zwischen Sushi, Curry oder koscheren Knishes wählen, Sandwiches mit allen nur denkbaren Belägen von Roast Beef bis zu gegrilltem Gemüse, Jumbo Bretzeln mit Senf oder Eissorten mit Geschmacksrichtungen von Grünem Tee bis zu weißer Schokolade.

Der Bahnhof hat viele Geheimnisse

Links führt ein schmaler Gang noch tiefer in das Innere des Bahnhofs zu einem weiteren Gewölbe, das sich plötzlich überraschend vor einem auftut. Durch den Saal von der Größe eines Münchner Bierkellers schlängelt sich die endlose lange Theke der Oyster Bar. Dutzende von Austernsorten vom Fulton Fischmarkt in der Bronx warten dort auf Eis in Holzkisten darauf, bei einem Champagner oder einem Martini zum Abschluss eines Multimillionen-Dollar-Deals oder auch nur zu einem raschen Rendezvous geschlürft zu werden.

Ganz vermag jedoch auch der neue, auf Hochglanz polierte Prachtbahnhof nicht die sozialen Realitäten der Stadt zu verschleiern, deren Büros er täglich mit energiegeladenen, aufstrebenden Arbeitskräften speist. Auf den Stühlen in der Wartehalle im Tiefgeschoss sitzen an einem kalten Wintertag zusammengekauerte Gestalten, die ihr Hab und Gut in Plastiktüten mit sich schleppen, und wärmen sich auf. Am Rande der Haupthalle stehen Männer in Lumpen an die Theke von geschlossenen Fahrscheinschaltern gelehnt und tun so, als läsen sie Zeitung. So lange sie sich nicht auf dem Boden breit machen oder betteln, so lange sie das Bild nicht stören und niemanden belästigen, lässt man sie in Ruhe.

Präsident Roosevelt hatte einst ein eigenes Gleis

Vor der Oyster Bar amüsieren sich derweil Jugendliche mit der Flüsterecke, einem der vielen Geheimnisse von Grand Central. Der Schall schleicht hier die Fließen der gewölbten Decke entlang bis auf die andere Seite des Raums. So können sich Liebhaber quer durch die Halle Zärtlichkeiten sagen, ohne das jemand anderes mithören kann.

Andere Geheimnisse des alten Bahnhofs mit seinem unendlichen Labyrinth an Gängen und Gewölben: vom Informationspavillon mitten in der Haupthalle führt eine Wendeltreppe zu einem unterirdischen Gang nach außen; auf der Westseite des Bahnhofs, von der Vanderbilt Avenue aus, gelangt man über eine Treppe in das Campbell’s Apartment unter dem Dach des Bahnhofs, einer voll eingerichteten Wohnung im Stil einer Florentiner Villa des 13. Jahrhunderts. Hier gab einst der Industrielle John D. Campbell seine Gesellschaften, bevor er mit dem Zug zurück zu seinem Anwesen am Hudson fuhr. Bis heute kann man dort unter seiner barocken Kastendecke zum Tagesausklang einen Cognac nehmen. Schließlich: das unterirdische tote Gleis, das einst für Präsident Roosevelt gebaut wurde, damit dieser unbemerkt in die Stadt kommen konnte. Bis heute führt von dort aus ein Aufzug direkt in seine einstige Privat-Suite im Waldorf Astoria.

An der Bar des Edelrestaurants Cipriani’s auf dem Westbalkon über der Haupthalle wird es nun, zum Feierabend hin, langsam voll. Ein schneller Martini, ein schnelles Bier, während man auf den Zug wartet – einen besseren Flecken gibt es in Manhattan für die Happy Hour kaum. Von hier oben hat man einen Logenblick über die Haupthalle, die unter den riesigen Kronleuchtern in den Galerien rund um den Saal wirkt wie der Innenhof eines Barockschlosses. Ein Innenhof, durch den eine Million Schuhe wie in einem perfekt choreografierten Tanz den Ausgängen und Durchgängen entgegen schweben.

Ein Mann schaut nach seinem ersten Drink auf seinem Blackberry nach dem Fahrplan und fragt dann seine Begleiterin im Chanel-Kostüm, ob sie lieber den nächsten Zug nehmen oder lieber noch ein bisschen verweilen sollen. Die Dame bestellt wortlos noch einen Drink.

Die „Stadt in der Stadt“ in Zahlen

Der Grand Central hat 67 Gleise. Etwa 750 000 Fahrgäste und Besucher strömen täglich durch die „Stadt in der Stadt“, deren Fläche fast 200 000 Quadratmeter beträgt. Gebaut wurde zehn Jahre lang – von 1903 bis 1913. Die Kosten dafür betrugen 80 Millionen Dollar, das entspricht 1,4 Milliarden Euro nach heutigen Maßstäben. In der Rushhour kommt alle 58 Sekunden ein Zug an. Seit 1976 steht der Bahnhof unter Denkmalschutz.

Zum vergleich: der meist frequentierte Bahnhof in Deutschland steht laut der Deutschen Bahn in Hamburg – mit täglich 450 000 Passagieren und Besuchern. Stuttgart folgt an achter Stelle mit etwa 240 000 Gästen am Tag.