Vor 40 Jahren startete Jörg Krauss an der Polizeischule in Biberach ins Berufsleben. Heute ist der Polizist Amtschef des Finanzressorts und Stellvertreter von Ministerin Edith Sitzmann. Das gab es in Baden-Württemberg noch nie. Wie aber kam es dazu?

Stuttgart - Dialektik. Jörg Krauss gebraucht das Wort häufig, vielleicht weil es ihm hilft, das eigene Leben besser zu verstehen. Was nach außen hin als schnurgerade Beamtenkarriere erscheint, weist Brüche auf, Thesen und Antithesen, die sich aber immer wieder in Synthesen aufhoben. Deren jüngste hat den inzwischen 58-Jährigen an die Spitze des Stuttgarter Finanzministeriums getragen.

 

Seit Bildung der grün-schwarzen Landesregierung steht Krauss seiner Ministerin Edith Sitzmann als Ministerialdirektor zu Seite. Für einen Beamten, der sein Berufsleben vor 40 Jahren an der Polizeischule in Biberach begann, ist das gleich doppelt ungewöhnlich: ein Polizist, der Amtschef im Finanzministerium wird; ein Beamter, der im mittleren Dienst anfing und in der Hierarchie des Landesdienstes ganz oben ankommt.

Wie ist so etwas möglich? – Das wisse er auch nicht so genau, sagt Jörg Krauss auf diese Frage. Schon dass er als junger Mensch bei der Polizei anlandete, sei zu einem guten Teil der Tatsache geschuldet gewesen, dass seine Eltern mit einem Einstellungsberater der Polizei befreundet waren. „Ich bin da eher hineingeschlittert.“

Krauss kam von einer Waldorfschule. Bei der Bereitschaftspolizei löste dies Heiterkeit aus. „Ich musste mir viel anhören, als sich das herumsprach.“ Diese Zeit empfand er als hart. Dabei ist Krauss kein Weichei. Er fuhr Streife in Dettingen/Erms und in Metzingen, da war er noch im mittleren Dienst, nach dem Studium an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen folgte die Kommissar-Laufbahn im gehobenen Dienst, später stieg er in den höheren Dienst auf.

Er arbeitete im Innenministerium, wo er sich mit der Europäischen Union beschäftigte. Damals galt es, die EU-Beitrittskandidaten in Ostmitteleuropa an die Union heranzuführen. Prag, Budapest – er kam herum. Immer wieder zog es ihn ins Landeskriminalamt, wo er zum Stellvertreter des Präsidenten aufstieg. Danach leitete er die Polizeidirektion Tübingen. Und es gab Phasen in seinem Polizistenleben, da wagte Krauss sich auch in Küchen, in denen heiß gekocht und scharf gewürzt wurde.

Polizist mit Haut und Haaren

Krauss ist Mitglied bei den Grünen, länger schon. „Ich bin jemand, der ökologisch denkt“, sagt er. Die Sorge um den Erhalt der Lebensgrundlagen treibe ihn um. An den Grünen schätzt er den Sinn für Dialektik. „Das offene Für und Wider finde ich wichtig.“ Aktiv am Parteileben nahm er nie teil: keine Zeit. „Polizei heißt immer auch, sich mit Haut und Haaren beanspruchen zu lassen“, sagt Krauss.

Nur die Dialektik, so lässt er durchblicken, kam ihm bei der Polizei ein wenig zu kurz. Die Polizei arbeite leistungsbezogen und zielorientiert – darauf getrimmt, akute Krisensituationen zu bewältigen. Aber manchmal bringe es auch Vorteile, verschiedene Dinge gegen den Strich zu bürsten. Das ist, folgt man Krauss, nicht so einfach bei der Polizei, die einem hohen Normierungsdruck unterliegt.

Mit seiner späteren Chefin Edith Sitzmann kam Krauss während seiner Zeit als Dozent an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen in Kontakt. Eine Kollegin, Professorin für Politologie, stellte die beiden einander vor. „Seither kannten wir uns, nicht vertieft, aber sie hat verfolgt, was ich mache – und sich ab und zu gemeldet.“ Welche Eigenschaften schätzt Krauss an seiner Ministerin? „Ich finde, sie hat ein unglaubliches Einfühlungsvermögen und ein tolles Verhandlungsgeschick.“

Die Entkoppelung des Fehlers von der Schuld

Zwei Jahre nach dem grün-roten Machtwechsel ging Krauss als Referatsleiter für Innen- und Justizpolitik ins Staatsministerium. Eben noch war er in Tübingen als Leiter der Polizeidirektion Herr über einen großen Behördenapparat gewesen, nun galt es Kärrnerarbeit zu leisten: Vermerke schreiben für den Ministerpräsidenten und all die anderen Gewaltigen in der Regierungszentrale.

Im Herbst 2015 folgte die nächste Station: Krauss wurde Regierungsvizepräsident in Stuttgart, und das in der sich zuspitzenden Flüchtlingskrise. „Wenn nachts ein Zug dasteht mit 2500 Flüchtlingen, dann ist es vielleicht gar nicht schlecht, einen Polizisten im Regierungspräsidium zu haben“, sagt er im Rückblick.

Zielorientiert handeln, Krisenlagen bewältigen – davon versteht er etwas. Als es in der Landeserstaufnahme in Ellwangen Probleme mit Asylbewerbern gab, initiierte er eine großangelegte Polizeirazzia und brachte damit wieder Ruhe in das Lager und in die Stadt auf der Ostalb.

Als Edith Sitzmann ihn fragte, ob er ihr Amtschef im Finanzministerium werden wolle, fackelte Krauss nicht lange. Man müsse nicht zwingend die Finanzhochschule in Ludwigsburg absolviert haben, um die Aufgabe zu meistern, findet er. Stimmt. Seine Vorgänger waren in der Regel Juristen, ein Berufsstand, der dank des Rechtscharakters allen Verwaltungshandelns in den oberen Behördenetagen omnipräsent ist. Krauss sagt, er gehe „relativ weit in die Fachlichkeit rein“, vor allem aber müsse er die politische Positionierung im Blick behalten – wenn er etwa Edith Sitzmann in der Finanzministerkonferenz oder im Bundesrat vertritt. Als Behördenchef schlägt Krauss Töne an, die man von Ministerialdirektoren gemeinhin nicht erwartet: Letztlich entscheide die Fehlerkultur über die Qualität eines Hauses, sagt er. Ziel sei es, einen Zustand zu erreichen, in dem ein Fehler dafür verwendet wird, für die Zukunft zu lernen. Er nennt das „die Entkoppelung des Fehlers von der Schuld“. Wenn ein Mitarbeiter zu ihm komme und sage, er habe einen Fehler begangen – „dann ist meine erste Reaktion: Danke für das Vertrauen, dass Sie zu mir kommen“. Auch dies kann man als Ausdruck dialektischen Denkens verstehen.

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