Jährlich strömen eine halbe Million Besucher ins Ulmer Münster. Aber früh am Morgen gehört die Kirche Ruth Höhn allein.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Ulm - Um sechs steht sie auf. Das Brot mit der Brombeermarmelade hat sie am Abend vorher gestrichen, so verliert sie morgens keine Zeit. Mit dem Bus vom Eselsberg runter in die Ulmer Altstadt, dann hinten über die Steinmetzwerkstatt ins Münster. Sie trägt den Schlüssel zur Sakristei an der Halskette wie einen Edelstein. Ihre Gummisohlenschritte hallen leise über den Schachbrettmarmor der nachtschwarzen Kirche. Sicher wie eine Blinde findet sie den Kippschalter im Mittelschiff. Später macht Flori, der Türmer, das große Licht an, aber für ihre Arbeit reicht erst mal Schummerbeleuchtung. Ruth Höhn hält den Tisch sauber, an dem die Leute Kerzen für ihre Lieben anzünden und in den Sand pflanzen. 50 Cent das Stück. Die „Wachsbebbele“ müssen raus und in die „Oimerle“ rein, der Sand muss frisch gerichtet werden. Nachher kommen die Touristen, im 125-Jahr-Jubiläum des größten Kirchturms der Christenheit sind es besonders viele. Aber in diesen morgendlichen Zwischenstunden gehört das Ulmer Münster ihr ganz allein.

 

Ruth Höhn ist 78 und ungefähr anderthalb Meter groß. Die Nase läuft ein wenig an diesem eiskalten Februarmorgen. Die weißen Haare trägt sie kurz und schnörkellos. Und aus ihren Augen hüpft förmlich der Schalk. Die Sätze sprudeln nur so – jeder davon ein kleines Schelmenstück. Ohne ihren Gehstock humpelt sie ein wenig: „Die Knie sind kaputt, aber Hauptsach, die Goscha geht“, sagt sie. An der Halskette, neben dem Sakristeischlüssel, schaukelt der Dentler-Ring aus Silber. Den hat sie von der Stadt Ulm für ihr ehrenamtliches Engagement verliehen bekommen. Sie trägt dicke Socken, Trekkingschuhe, eine weinrote Baumwollbluse unter einer Strickjacke, darüber eine warme Angorajacke.

Diese Stille. Später, wenn vorn die Pforte öffnet, hört man immer irgendwo irgendwas: Hüsteln, Schritte, Stimmen, Baugeräusche von draußen. Aber jetzt: nichts. Und dann: das Graben nach Wachsbebbele und das Rieseln von Sand am Kerzentisch. So weckt Ruth Höhn das Münster sacht aus seinem Schlaf.

So schafft sie, Tag für Tag, seit 21 Jahren

An der Rechten trägt sie einen Gartenhandschuh aus dem Baumarkt. Sonst wird, wenn man mit dem alten Silbersieb schafft, die Hand immer so wüst. Eine Zeit lang übernahm eine Ein-Euro-Jobberin die Aufgabe, „aber die hat jede Kerz oinzeln raustraga“. Mit Ruth Höhn kam wieder Zug in die Sache. Die Arbeit hat sie von ihrem „Schnappfinger“ geheilt. Sie konnte den Mittelfinger nicht mehr richtig bewegen, der Kirchensand tat ihr gut.

So schafft sie, Tag für Tag, Monat um Monat, seit 21 Jahren. In diesem mächtigen Gotteshaus, dessen erster Stein 1377 gelegt wurde, ist das ein verschwindend geringer Zeitraum. Verglichen mit den Predigten des Reformators Konrad Sam, den Barockorgeln des Georg Friedrich Schmahl oder den Liedern von Edgar Rabsch („Auf, auf, mein Herz mit Freuden“), die über die Jahrhunderte im Ulmer Münster wirkten, mag ein ordentlicher Kerzentisch nur eine Randnotiz in den Geschichtsbüchern wert sein. Und wer die biblischen Motive in sich aufnimmt, die einen hier an jeder Ecke anspringen – die Grablegung des Rufers in der Wüste, das Treffen am Goldenen Tor, Jesus und das kanaanäische Weib – dem erscheint das Sandsieben vielleicht als ziemlich profane Angelegenheit. Aber die ist halt auch wichtig. Ruth Höhn hinterlässt ihre Spuren im Sand, jeden Tag frisch. „So schee, wie i des mach, macht des koine“, sagt sie.

Wenn es tagt, beginnt das Farbenspektakel. Die Fenster der Bessererkapelle verwandeln sich in ein traumartig schönes Bilderbuch der Welterschaffung. Oder das Annen-Marien-Fenster: Tausend schillernde Glasstücke fügen sich zum Leben Marias zusammen. Die Weberzunft hat es 1390 gestiftet. Und jetzt im Winter, wenn die Sonne tief steht und durch ein bestimmtes Fenster strahlt, kann man Zeuge eines zauberhaften Schauspiels werden: Ein gold-gelb-oranges Licht durchfließt die ganze Kirche. „Wie in Dubai.“ Nur für wenige Sekunden. Nur für Ruth Höhn.

Wie eine blitzende Göttin

Und dann rankt sich spätgotisches Laubwerk um die Weihwasserschale, als wäre es echt, die goldenen Engelsflügel am Wandaltar schimmern noch intensiver, und die Hauptorgel, eine der bedeutendsten Mitteleuropas, wacht über allem wie eine blitzende Göttin. Gegen acht Uhr kommt meistens der Organist „und spielt immer den gleicha Scheiss“.

Die Tafel mit den Bittzetteln der Besucher hängt noch gespickt voll vom Vortag. Mit Bleistift geschriebene Gebete: „Ich vermisse dich, Papa, und ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder. Ich liebe dich.“ Oder: „Herr, hilf mir, meinen Zorn im Keim zu ersticken und nicht an meiner Frau auszulassen.“ – „Lieber Gott, mach, dass meine Eltern wieder zusammen sind.“ – „Ich wünsch mir einen Bundessieger.“ – „Gott, lass meine Schwester vernünftig werden.“ Ruth Höhn nimmt den Großteil der Zettel ab, um Platz für neue zu schaffen. Auf einem stand mal, das hat sie sich gemerkt, da musste sie lachen damals: „Herrgott, pass auf meinen Anton auf – auch wegen den Frauen.“

In der Sakristei sitzt sie wie Aschenputtel. Den Eimer mit den Wachsresten auf dem Schoß: die Schlechten in das eine Kübele, das sind die dicken Sand-Wachs-Klumpen, die an ein Katzenklo erinnern. Die Guten in das andere Kübele, das sind die unverklebten Wachsstücke, die gehen in eine Fabrik, „die machad wieder was Scheenes draus“. Wenn der Türmer abends geht, bläst er die Kerzen aus. Alle, die „zu schad zom Wegschmeißa“ sind, steckt Ruth Höhn am Morgen zurück in den Sand, den sie zuvor glatt gestrichen hat wie ein Estrichleger. Im Advent braucht sie dreieinhalb Stunden für das Geschäft. So viele Kerzen.

Das monumentale Fresko

Im Chorgestühl: orakelnde Sybillen, in dunkles Eichenholz geschnitzt, rätselhafte Mischwesen, Naturgeister, ein Kuriositätenkabinett mittelalterlicher Fantasie. Der in Stein gemeißelte Schmerzensmann: scharf treten Knochen, Muskeln, Sehnen hervor, weit klafft die Wunde. Das monumentale Fresko: Posaunen blasende Engel verkünden das Ende der Zeiten. Zur Linken führt Petrus die Seligen über einen Treppenturm in den Himmel. Rechts treiben Teufel die Sünder in die Hölle. Maria betet für die armen Seelen.

„Beten tu ich daheim“, sagt Ruth Höhn. Für religiöse Versenkung hat sie eh keine Zeit: Die Klopapierrollen und das Handpapier in der Toilette müssen aufgefüllt werden. Die Portale müssen gekehrt werden. Einmal stand da ein Bottich voll Quark. Oder einmal eine Flasche Hugo, noch verschlossen. Die hat sie sich am Abend gegönnt. Manchmal pinkeln Männer an die Portale, das ist eine Sauerei. Einen, den sie in flagranti erwischt hatte, fuhr sie an: „Des macht man nicht!“ Er hat es trotzdem gemacht. „Ich hätt ihn am liebsten geohrfeigt“, sagt sie. Sonntags vor dem Gottesdienst verteilt sie die roten Wolldecken auf den Bänken, legt sie danach wieder sauber zusammen. Außer an Weihnachten. Das wird ihr zu viel: dreimal am Tag von vorne anfangen. Da muss dann halt mal geheizt werden, das hat der Dekan auch eingesehen. Am Posaunensonntag alle zwei Jahre ist das Münster noch voller: 2000 Leute, Ruth Höhn mittendrin. Am Posaunensonntag vor 45 Jahren hat sie geheiratet. Ihre Tochter vermählte sich auch an einem Posaunenwochenende. Nicht in Ulm, aber das gilt trotzdem.

Ruth Höhn ist fest in der Stadt verwurzelt. Ihr Vater hatte einen Uhrenladen in der Frauenstraße, der wurde zerbombt. Nach dem Krieg fing er neu an in der Heinrichstraße. 72,50 Mark Miete, sie sieht das Geld noch auf dem Küchentisch liegen. Sie besuchte die Frauenarbeitsschule, danach arbeitete sie viele Jahre in einer Diätküche. Ihr Mann, ein Witwer, kam da auch immer hin. 1968 hat sie ihn geheiratet. Vor 22 Jahren starb er. Es ging schnell. Die Bauchspeicheldrüse. Zum ersten Mal an diesem Tag wird sie einsilbig beim Erzählen. „Denken Sie nicht, ich bin hartherzig. Aber man darf nicht zerfließen.“ Immer weiteratmen.

Sie braucht die Kirche – und die Kirche braucht sie

Sie fing an, für die Gemeinde zu arbeiten. Ihr Mann war ja nicht so für die Kirche gewesen, aber sie fand hier einen neuen Anker. Sie wurde im Ulmer Münster getauft, hat dort geheiratet, hier war der Festgottesdienst nach dem Tod ihrer Eltern. Und Ruth Höhn ist jeden Sonntag im Münster-Gottesdienst, das ist ja klar. Sie gehört hierher. Sie braucht die Kirche. Die Kirche braucht sie.

Um neun beginnt der Trubel. Das mag sie auch: Wenn es lebendig wird in der heiligen Halle. Sie kennt so viele Leute, und sie unterhält sich so gern. Danach, so gegen elf, ist das Elisabethenhaus dran, ein Altenheim gleich in der Nähe. Früher hat sie dort bettlägerige Leute gefüttert, doch dann bekam sie Gürtelrose. Jetzt geht sie hin zum Knöpfeannähen und Kleiderflicken – „Höschen und Hemdchen“.

Und so verausgabt sie sich zwischen Hochaltar und Altenheim, Kerzentisch und Nähzeug. Stützen, die sie tragen wie die Grundpfeiler das Ulmer Münster. Spätnachmittags kommt sie heim und kann dann bloß noch sitzen, Südwest-Fernsehen gucken, Socken stricken. Die neuen sind jetzt fertig geworden, die kriegt der Armin von der Vesperkirche – ein glatter Mann, früher war er Gerichtsvollzieher. Er hat sich freundliche Farben gewünscht, jetzt kriegt er rote Socken.

Eberhard vom Rotary Club

Die Großkampftage der Vesperkirchenzeit wirbeln ihren fest geregelten Tagesablauf gehörig durcheinander. Dann lässt sie ihr altes Münster nach der Grundpflege hinter sich und macht sich auf zur Speisung der Armen in der Pauluskirche. Auf dem Weg grüßt Ruth Höhn ein paar Leute auf der Straße – „hallööchen und a guda Tag“ – erklärt, wo früher das Pelzgeschäft war, und nimmt bei der „Südwest Presse“ noch die Zeitungen für die Vesperkirche mit: „Sagt doch der Pfarrer neulich, der schwätzt sonschd nie was: ,Ach Frau Höhn, holen Sie die Zeitungen, ja?‘ Dabei holl i die Zeidonga seit zehn Johr.“

Bei der Vesperkirche ist sie das Ruthchen und die Spülkönigin. Da trifft sie auch Eberhard vom Rotary Club, der war früher General, ist aber schon geschieden. Den Rainer, den Axel, die Renate, den Helmut, den Walter. Jeder kriegt ein Küsschen zur Begrüßung. „Woisch – Entschuldigung, jetzt hab ich aus Versehen woisch gesagt – wissen Sie, Männer mag ich lieber. Die machad, was ich sag.“

Fünf Stunden täglich steht sie in ihrer waldgrünen Schürze an der Pauluskirchenspüle. Am Ende der Woche wird sie alle Küchentücher mit heimnehmen, waschen, schleudern, in der Stube aufhängen, bügeln und zusammenlegen. Denn so kann man die ja nicht in den Schrank tun. „Wenn i mal nemme kann, i woiß net, wer des alles macha soll.“