Die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig beendete de facto die Allmacht der SED im Osten Deutschlands. Der StZ-Autor Harald Lachmann erinnert sich an die Mischung aus Angst und dem Willen zum friedlichen Protest, die damals in den Straßen herrschte.

Leipzig - Die Spannung ist sichtbar an diesem Nachmittag in der Leipziger Innenstadt. Unwillkürlich ziehen Passanten den Kopf etwas ein, weichen den Blicken anderer aus. Die Gassen leeren sich zusehends. Kein Geschäft, kein Café ist mehr geöffnet. „Aus technischen Gründen ab 17 Uhr geschlossen“, liest man zuweilen an der Tür. Umso mehr fallen die Dreiergrüppchen unauffällig gekleideter Männer auf, die man sich schnell zuordnen kann: Staatssicherheit. Aber auch sie schauen irritiert, fühlen sich sichtlich unwohl.

 

Polizei sieht man vergleichsweise wenig in Marktnähe, Soldaten gar nicht. Dafür lassen sich in der Goethestraße, unweit des Karl-Marx-Platzes, fünf, sechs Schützenpanzerwagen der Bereitschaftspolizei ausmachen. Eine ältere Frau steht vor einem der Fahrzeuge und redet auf einen Offizier ein. Auch er reagiert ungelenk.

Am Vormittag war der Agitprop-Sekretär der SED-Bezirksleitung höchstselbst in die Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“ gekommen, hatte mit markigen Worten etwas von Konterrevolution schwadroniert und davon, dass man heute „notfalls entschlossen eine Entscheidung“ herbeiführen werde. Doch auch er wirkte unsicher. Längst macht in der Stadt die Runde, dass die Krankenhäuser ihre Notfallkapazitäten aufgestockt und zusätzliche Blutreserven geordert haben. Eine „chinesische Lösung“ in Leipzig? Kaum einer spricht es aus, doch befürchten es wohl viele.

Beugt sich die provozierte Staatsmacht der Zivilcourage?

„Die ganze Stadt war von Angst erfüllt“, erzählt später Friedrich Magirius, der als evangelischer Superintendent zugleich eine Art Nestor der allmontäglichen Friedengebete in der Nikolaikirche war. Seine Wohnung liegt direkt neben dem Gotteshaus – eben hier, wo sich nun an diesem Spätnachmittag Zehntausende drängen. Viele halten Kerzen in den Händen, an der Kirchmauer liegen Herbstblumen. Sie gedenken der 204 Demonstranten, die zwei Tage zuvor verhaftet worden waren. „Wegen Überfüllung geschlossen“, steht am Kirchportal. Drinnen mahnt derweil Pfarrer Christian Führer vor allem eins an: Gewaltlosigkeit. „Sie hörten von Jesus, der sagte: ‚Liebe deine Feinde!’‘ Und nicht: ,Nieder mit dem Gegner . . .‘“

Fast schüchtern werden Transparente hochgehalten. Foto: Lehtikuva Oy

Das Pikante dabei: fast die Hälfte des Kirchgestühls füllen SED-Genossen aus: Sie wurden hierher beordert, um „staatsfeindlichen Elementen“ nicht das Feld zu überlassen. Auch zwei Kollegen aus der Redaktion sind darunter. Ohnehin spielt die Zeitung in diesen Wochen eine unrühmliche Rolle. Berichtet sie überhaupt über das Geschehen, dann mittels stereotyper Worthülsen, etwa am 3. Oktober 1989: „Am Montagabend kam es in der Innenstadt erneut zu einer ungesetzlichen Zusammenrottung größerer Personengruppen, die die öffentliche Ordnung und Sicherheit störten und den Straßenverkehr beeinträchtigen.“ Am 9. Oktober drohte in einem bestellten Leserbrief ein Kampfgruppenkommandeur, „diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden – wenn es sein müsse, mit der Waffe in der Hand!“

Werden die Demonstranten, wie seit Anfang September an jedem Montag, dennoch nach dem Montagsgebet die Innenstadt umrunden? Werden sie es wirklich friedvoll tun? Und beugt sich die provozierte Staatsmacht erneut ihrer Zivilcourage? So wie am Montag zuvor, als gut 15 000 Protestierer am Brühl plötzlich vor einer Sperrlinie der Kampfgruppen standen? „Wir blieben stehen, suchten keine Konfrontation, setzten uns einfach auf die Straße“, erinnert sich Steffen Pohle, damals 48. Er lief in der ersten Reihe, kannte womöglich das eine oder andere Gesicht vis-à-vis. Denn auch in seinem Forschungsinstitut gab es eine Betriebskampfgruppe – Leute wie du und ich, oft einfache Arbeiter, Kraftfahrer, Ingenieure. So gaben sie schließlich, als der Zug von hinten drängte, widerstandslos den Weg frei.

Die Behörden sollen die Proteste beenden

Doch am 9. Oktober ist die Lage eine andere: Berlin verlangt Härte vom renitenten Leipzig. Die Behörden vor Ort sollen den „ungenehmigten“ Protesten endlich ein Ende setzen. Zudem hat die zurückliegende Woche Spuren hinterlassen. In Plauen waren bei einer großen Demo beide Seiten aneinandergeraten. In Dresden attackierten gar Tausende mit Pflastersteinen die Volkspolizei, die den Bahnhof abschirmte, als hier am 4. Oktober die Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen durchrollten. Ein Polizeiauto ging in Flammen auf, die Ordnungsmacht schlug mit Wasserwerfern und Tränengas zurück, nahm 1300 Menschen fest. Und auch Leipzig erlebte zwei Tage zuvor, ausgerechnet dem 40. DDR-Geburtstag, eine makabre Premiere: Erstmals droschen mit Helmen, langen Stöcken und Schutzschilden bewehrte Polizisten auf Wehrlose ein. Das kannte man so nur aus dem Ausland.

So kursieren viele Gerüchte über Aufmunitionierungen im Protestlager. Man will von Helmen, Eisenstangen, Reizgas wissen. „Sicher hätten wir uns verteidigt, wären wir angegriffen worden“, räumt 25 Jahre später der Leipziger Bürgerrechtler Uwe Schwabe ein. Für den damals 27-jährigen Krankenpfleger, der sich seit 1984 in Umwelt- und Menschenrechtsgruppen engagierte, ging es ja auch um einiges: Er stand ganz oben auf einer Liste sofort festzusetzender Rädelsführer, die die Staatssicherheit für den 9. Oktober vorbereitet hatte. Bereits im Januar hatte er zehn Tage in U-Haft gesessen.

Inzwischen raunt es über den Nikolaikirchhof, die Polizei habe Befehl, eine erneute Montagsdemo nach wenigen Hundert Metern aufzulösen – spätestens vor dem Hauptbahnhof. Am Karl-Marx-Platz sind Uniformierte mit einer tragbaren Kamera auszumachen: Sie senden Bilder in die Einsatzzentrale am Dittrichring, wo man sich ein Bild von der Lage vor Ort machen will. So kann auch Volkspolizei-Major B. das Geschehen live verfolgen. Am Morgen beim Rapport hatte sich der Stabsoffizier genaue Notizen gemacht: 27 Polizeikompanien werden in Leipzig an diesem Tag zusammengezogen, rund 3000 Mann. Einen Großteil davon kommt aus Halle, Dresden, Karl-Marx-Stadt und Gera sowie von Polizeischulen in Aschersleben und Wolfen. Zwei Lkws stehen zudem bereit, um Verhaftete in eine Messehalle nach Markkleeberg zu bringen.

„Wir sind das Volk“

„Ein Wahnsinn!“, denkt B. und notiert groß in sein Dienstbuch, das er bis heute aufbewahrt: „Wir lösen das Problem mit polizeilichen Mitteln nicht!“ Beunruhigt versucht er, auf dem Monitor Gesichter auszumachen. Er weiß, dort unten laufen jetzt auch der Bruder seiner Frau und sein Nachbar mit. Aber es sind zu viele. Mit polizeilicher Routine versucht er Klarheit über  die Menschenmenge zu bekommen: „60 000 mindestens, vielleicht 70 000 . . .“

Es ist kurz nach 18 Uhr. Das Kirchenportal öffnet sich, das Gebet ist beendet, Glocken läuten. Sofort setzt sich der Zug Richtung Karl-Marx-Platz in Gang. Die Stimmung ist gereizt, aber nicht aggressiv. Eher liegt eine unheimliche Ruhe in der Luft. Ständig strömen neue Leute hinzu, denn auch andere Leipziger Kirchen hatten heute zum Gebet gerufen. 5000 Teilnehmer reisten zudem per Zug an, weiß Major B.

Bald ist der Platz zwischen Oper und Gewandhaus eng gefüllt. Rufe ertönen, erst zaghaft, dann lauter: „Gorbi, Gorbi“, „Demokratie jetzt“ und erstmals auch „Wir sind das Volk!“. Transparente fordern freie Wahlen, politische Reformen und „Keine Gewalt!“. Bis zum Hauptbahnhof sind es nur wenige Minuten. Man sieht schon die beiden Wasserwerfer und sechs Polizei-Lkws, die mit Räumgittern die Straße abriegeln und so die Demonstranten abdrängen sollen. Kracht es jetzt? Das fragen sich die Marschierer ebenso wie die Polizeiführung vor dem Monitor. Da ertönt plötzlich durch den Stadtfunk, dessen Lautsprechersäulen sich durch das ganze Zentrum ziehen, ein mahnender Aufruf. Die Stimme ist in Leipzig gut bekannt: Sie gehört Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Zwei Tage zuvor gab er sich in der ARD bereits öffentlich „beschämt“ über den Leipziger Polizeieinsatz. Nun hat er am Mittag aus Angst vor weiterer Eskalation Dr. Kurt Meyer angerufen, den Sekretär für Kultur der SED-Bezirksleitung. Zusammen mit ihm, einem stadtbekannten Kabarettisten, einem Theologieprofessor der Uni sowie zwei weiteren SED-Funktionären verfassen sie einen Aufruf zu Besonnenheit, Gewaltverzicht und Dialogbereitschaft, den Masur am Abend verliest.

Wer gab den Befehl zum Polizei-Rückzug?

Und das Unerwartete geschieht. Die Staatsmacht zieht ihre Leute zurück, lässt den Zug passieren. Polizisten verschaffen ihm nun sogar freie Fahrt rund um den ganzen Stadtring, stoppen kurzzeitig Straßenbahnen. „Schließt euch an!“, rufen die Demonstranten. Doch die meisten verkrümeln sich lieber.

Aber wer gab das Signal dazu? Wer hatte diesen Mut? Für Major B. ist es klar sein Chef, Polizeigeneral Gerhard Straßenburg. Der habe bereits um 18.15 Uhr den Innenminister in Berlin informiert, dass es sinnlos sei, eine solch gewaltige Ansammlung aufzulösen – und schließlich die Sache selbst entschieden, weil Berlin nicht zurückruft. Den eigenen Leuten befiehlt er lediglich Eigensicherung.

Bürgerrechtler Uwe Schwabe ist im Umkehrschluss freilich bis heute sicher: „Wären wir wieder nur 15 000 gewesen – sie hätten uns zerschlagen!“ Nur die große Menge habe die Polizei zurückweichen lassen. Auch jenen Aufruf zur Gewaltlosigkeit von Masur und Co. hält er schlicht für überbewertet. „In unseren oppositionellen Gruppen warben wir da bereits seit Tagen schon für strikte Gewaltlosigkeit, brachten dazu 30 000 Flugblätter in Umlauf!“ Steffen Pohle pflichtet ihm bei: „Es war einfach unser starker Wille, ohne alle Gewalt zu demonstrieren.“

So aber löst sich der Zug, genau wie er sich scheinbar spontan gebildet hat, gegen 19.30 Uhr geräuschlos wieder auf. Die meisten gehen einfach nach Hause. Nur einige Demonstranten stehen noch in Grüppchen mit Kampfgruppenleuten zusammen und diskutieren einträchtig. Und auch wenn es noch manches Nachspiel geben wird, vor allem für die drei SED-Sekretäre, die zunächst tagelang mit Hausverbot belegt werden – jeder spürt es genau: Ab heute haben die DDR-Mächtigen ihr ignorantes Machtmonopol verloren.