Jörg-Michael Wienecke ist seit vielen Jahren in den großen und kleinen Opernhäusern der Welt zu Hause. Als Kritiker hat er sich einen guten Ruf erschrieben.

Göppingen - Jörg-Michael Wienecke ist Kreisverkehrsplaner. Daten und Fakten sind sein Metier. Nichts Aufregendes also, sollte man meinen. Doch er hat eine andere Seite, und wie er so in der Tür seines Büros im Landratsamt steht – stattlich, aufrecht, in weißem Hemd und schwarzem Sakko – , fragt man sich, wieso einem das entgehen konnte. In dieser Pose würde man ihm glatt den Opernstar abnehmen und wäre damit auf der richtigen Fährte. „Singen kann ich nicht“, wehrt Jörg-Michael Wienecke ab. „Aber ich habe eine Leidenschaft für Opern.“

 

Das ist untertrieben. Jörg-Michael Wienecke, der Leiter des Amtes für Mobilität und Verkehrsinfrastruktur, wie es richtig heißt, ist in seiner Freizeit nicht nur Gast in den großen Opernhäusern der Welt, er ist auch ein gefürchteter Opernkritiker. Seine Rezensionen erscheinen regelmäßig in dem Magazin „Das Opernglas“. Er hat Stars wie Anna Netrebko, Anja Harteros, Rolando Villazón, Luciano Pavarotti oder Jonas Kaufmann erlebt, und er schwärmt von der Münchner Staatsoper, die die Häuser in Berlin oder in Dresden in den Schatten stelle. Er besucht Aufführungen in Bayreuth oder auch in der Metropolitan Opera in New York.

Wunderbare Abende im kleinen Como

Sein Wohlwollen finden aber auch die kleinen Klitschen. Bei diesem Thema steigert sich seine wohlklingende Stimme unversehens in ein empörtes Crescendo. Selbstverständlich dürfe an die kleineren Häuser nicht der selbe Maßstab angelegt werden, wie an die großen, wettert er und erzählt von wunderbaren Abenden im kleinen italienischen Como und im unscheinbaren Landshut. Es sei ein „Verbrechen an der Gesellschaft“, dass diese kleinen Bühnen in immer größere Schwierigkeiten gerieten, weil ihnen die Zuschüsse gekürzt würden, ereifert er sich.

Es war der Ärger über diese Ignoranz, die ihn vor Jahren dazu trieb, bei dem Hamburger Opernmagazin vorstellig zu werden. Wieso eine in seinen Augen hervorragende Aufführung in Karlsruhe schlichtweg übergangen werden könne, wollte er wissen. Die Antwort kam prompt – in Form eines Auftrags: „Machen Sie doch mal.“ Seither macht er. Aus purer Lust, wie er sagt.

Wie viele Opern er besprochen hat, kann Jörg-Michael Wienecke nicht sagen. Er schätzt aber, dass er 3000 bis 4000 Aufführungen besucht hat. „Locker. Es gab Zeiten, da saß ich jeden zweiten Abend in der Oper“, erzählt er. Manche Opern hat er schon mehrere Dutzend Male gesehen, Richard Wagners Tristan etwa. „80 Aufführungen reichen da nicht“, sagt er. Wagner ist sein Fixstern, auch wenn er zwischenzeitlich auch Feuer für den Belcanto, für Rossini, Bellini und Donizetti, gefangen hat. „Aber Wagner kommt wieder“, sagt er. Vier Mal hintereinander hat er in diesem Jahr eine Tristan-Aufführung an verschiedenen Häusern besucht. Ausgerechnet die Vorstellung in Landshut, die in einem Theaterzelt stattfand, weil das Haus zurzeit saniert wird, entlockt ihm höchstes Lob. „Das war fantastisch.“

Geschichten wie in den Daily Soaps

Wieneckes Liebe zur Oper ist nicht im Elternhaus geweckt worden. „Es war der eine entscheidende Lehrer, der mich herangeführt hat“, erzählt Jörg-Michael Wienecke, der in Karlsruhe aufgewachsen ist und dort auch zum ersten Mal mit der klassischen Musik in Berührung kam. Sein Lehrer pries im Unterricht das sonntägliche Elf-Uhr-Konzert mit der Staatskapelle „wie Sauerbier“ an. Der damals 17-Jährige fing Feuer. „Das war ein unglaubliches Erlebnis, diese überwältigende Opulenz der Musik“, erinnert sich der heute 55-Jährige.

Vom klassischen Konzert zur Oper war es nur ein kleiner Schritt. Die Auffassung, dass Opern eher etwas für das intellektuelle Publikum seien, bezeichnet Wienecke als Quatsch. „Opern sind billige Geschichten, wie wir sie heute in den Soaps erleben. Es geht um Dreiecksbeziehungen, Leidenschaft, Emotion pur. Da braucht man keine Vorkenntnisse“, erklärt er. Entsprechend öde findet er Kinderopern. Das Pädagogische würden Kinder sofort heraushören. So hat er seine zwei Söhne schon im zarten Alter von sechs, sieben Jahren in die großen Häuser zu Puccinis Bohème oder Wagners Walküre geschleppt – und Begeisterung geerntet. „Wenn die Emotionen echt sind, ist das für Kinder überhaupt kein Problem.“

Auch Zugverspätungen wecken Emotionen

Wieso er nicht hauptberuflich Opernkritiker geworden ist? Jörg-Michael Wienecke lacht. Seine Tätigkeit im Landratsamt sei keineswegs langweilig. „Mir macht mein Beruf Spaß“, sagt er. „Ich brauche das eine genauso wie das andere. Außerdem kochen die Emotionen hoch, wenn der Zug 30 Minuten Verspätung hat.“