Es gibt Rebsorten, die schaffen es kaum über ihr Anbaugebiet hinaus. Der Gutedel ist so eine. Zu Recht, sagen viele. Doch wer sich intensiv mit diesem Wein beschäftigt, lernt ihn zu schätzen.

Müllheim - Um Wein aus der wohl ältesten Rebsorte der Welt zu trinken, muss man ganz weit in den Südwesten Deutschlands fahren: ins Markgräflerland. Hier wächst der Gutedel. Eine Rebsorte, über die selten gut gesprochen wird: Er sei ein Zechwein, für Säureverächter, weder gut noch edel.

 

Die Winzerin Andrea Engler-Waibel, 49, aus Müllheim kann darüber nur schmunzeln. Mit dem Telefon in der Hand steht Engler-Waibel im Verkaufsraum ihres Weinguts. Frisch saniert vereint er Moderne und Tradition: Große Tische aus burgundischer Kupfereiche stehen im Raum, das freigelegte Bruchsteinmauerwerk erzählt von der Geschichte dieses Hauses. 1799 wurde das Hofgut erbaut, seit 1892 ist es in Familienbesitz. Wo jetzt Weißburgunder und Gutedel auf Holzregalen stehen, standen früher Kühe auf Mist.

Es ist viel los in dem Verkaufsraum. Das Telefon klingelt unentwegt, Kunden schauen sich um. Im Keller wartet der Spätburgunder auf die Abfüllung, eine Jubiläumsabfüllung: 125 Jahre Weingut Engler. Andrea Engler-Waibel führt das Weingut seit 2004 in der vierten Generation. Der Gutedel ist ihre Hausspezialität. „Und wer den Gutedel verstehen will, der muss den Markgräfler verstehen“, sagt sie. „Er spiegelt unseren Charakter wider.“

Das Markgräflerland liegt zwischen Freiburg und Basel. Tannenwälder, Obstgärten und Weinberge säumen die Landschaft. Oft weht ein leichter Wind aus der burgundischen Pforte. Im Osten steigen die Berge des Schwarzwalds dunkel auf, zum Rhein führen die sanft abfallenden Hügel, auf denen der Gutedel wächst. Steht man in den Reben, blickt man auf die Nachbarländer Schweiz und Frankreich. Andere Anbaugebiete wie der Kaiserstuhl sind hügeliger, durchzogen von Tälern, kurvig und eng. „Hier ist alles a wäng offener und freier, wie der Gutedel“, sagt Andrea Engler-Waibel. Wer die Markgräfler mag, der mag auch deren Wein, davon ist die Winzerin überzeugt.

Der Wein ist fest mit der Region verbunden

Doch wie ist er denn, der traditionelle Gutedel? Dieser Wein drängt sich nicht auf: keine fetten Aromen, keine Frucht- oder Holzbombe. Gutedel ist ein Wein mit moderater Säure und Alkohol, mit feinen Aromen von Mandel, weißen Blüten und leichten Fruchtnoten. „Ein Wein, den man zu jeder Tages- und Lebenszeit trinken kann“, sagt Engler-Waibel. „Aber man braucht eben ein sensibles Verständnis für einen so zarten Wein ohne schreiende Aromen.“

Andrea Engler-Waibel weiß, worüber sie spricht. Das Weingut hat seit je Gutedel vermarktet. Ihr Urgroßvater verkaufte den Wein noch unter dem Namen „Markgräfler“. Sie schreibt „Gutedel“ auf die Flasche. „Der Name passt gut“, sagt sie. „Er gehört schließlich zur Region. Seit 1780.“

Was der Trollinger für die Württemberger ist und der Elbling für die Moselaner, das ist der Gutedel für die Markgräfler. Der Wein ist fest mit der Region verbunden. Ursprung und Verbreitung sind umstritten. Er wird noch in Frankreich unter dem Namen Chasselas und in der Schweiz als Fendant angebaut. Er gilt als älteste Kulturrebe der Welt, die ihren Ursprung am Nil, in der ägyptischen Oase Al-Fayum, hat. Vermutlich die Römer brachten Rebstöcke nach Europa. Am Genfer See in der Schweiz fanden sie optimale Bedingungen. Ins Markgräflerland gelangten sie durch den Mann, dem die Region ihren Namen verdankt: Markgraf Carl Friedrich von Baden. Von einer Reise an den Genfer See brachte er um 1780 Gutedeltrauben mit. Sie schmeckten ihm so gut, dass er deren Anbau befahl. Gutedel wurde die meistangebaute Sorte der Region. Das ist bis heute so geblieben: 1100 der 3000 Hektar Rebfläche des Markgräfler Lands sind mit Gutedel bestockt.

Besonders gut gedeihen die Trauben auf tiefgründigen, lehmhaltigen Böden, wie sie Andrea Engler-Waibel bewirtschaftet. „Wir haben mächtige Lehm- und Lössböden und arbeiten ohne Herbizide und Insektizide.“ Den Gutedel baut Engler-Waibel im Edelstahltank aus. Es entstehen schnörkellose, preiswerte Weine aus solidem Handwerk. „Ich bin ein gradliniger Mensch, und so sind meine Weine“, sagt sie.

Eine Flasche für 125 Euro

Für diese Machart erhält Engler-Waibel Anerkennung. Seit 20 Jahren kürt der Verein Markgräfler Wein beim Gutedel Cup die besten Vertreter der Rebsorte. Eine Veranstaltung, die zeigen soll: Der Gutedel kann was, wir sind stolz auf ihn. Engler-Waibel ist seit vielen Jahren stets unter den zehn besten Weingütern. Im vergangenen Jahr gewann sie den Cup mit ihrem 2015er Müllheimer Gutedel. Dieses Jahr ist sie wieder dabei und konkurriert mit 200 anderen Einreichungen. Die Verleihung findet am Donnerstag im Kurhaus von Badenweiler statt.

Fünfundzwanzig Kilometer südlich, in direkter Sichtweite zur Schweiz und Frankreich, arbeitet ein Winzer, der überhaupt keine Lust hat, am Gutedel Cup teilzunehmen. „Das ist eine Veranstaltung, um sich auf die Schultern zu klopfen“, sagt Hanspeter Ziereisen. „Da wird ein Schema hin gepresst: So muss der Gutedel sein. Das ist nichts für mich.“

Ziereisen, 49, hat ein ambitioniertes Ziel: Er will dem Gutedel zu alter Größe verhelfen. „Das ist die meistunterschätzte Weinsorte Deutschlands“, sagt er. Früher hat Ziereisen wie viele andere Winzer in der Region auf Masse statt auf Klasse gesetzt. „Bis vor zehn Jahren bauten wir Gutedel wie alle anderen aus: Reinzuchthefe, Stahltank, fertig“, erzählt er. Irgendwann hätte er am liebsten die Reben aus dem Weinberg gerissen und sich auf seinen heiß geliebten Spätburgunder konzentriert. Doch seine Frau Edeltraud Ziereisen wollte den Gutedel nicht aufgeben.

Okay, sagte Ziereisen, aber dann machen wir ihn richtig. „Früher war Gutedel etwas ganz Besonderes“, erzählt er und kramt alte Bücher und Prospekte raus. Dort steht, dass auf dem Müllheimer Weinmarkt 1872 der teuerste Wein ein 1802er Gutedel war. „Die haben den Gutedel bis zu einhundert Jahre im Fass liegen lassen“, sagt Ziereisen. Alte Weinkarten beispielsweise aus den Zeppelinluftschiffen belegen, dass der Gutedel ein international hochgeschätzter Wein war. Und jetzt? „Das meiste, was hier erzeugt wird, ist badischer Einheitsbrei.“

Eine Fahrt in den Weinberg

Seit zehn Jahren hat Ziereisen seinen Ausbau komplett umgekrempelt. „Gutedel hat wenig, der ist wie ein Weihnachtsbaum: Das Lametta, der Geschmack, kommt vom Boden. Die Traube hat dadurch ein Riesenpotenzial, gerade weil sie den Boden so gut widerspiegelt. Aber dafür muss man den Wein ernst nehmen.“

Ziereisen nimmt ihn ernst. Er reduziert den Ertrag. Die Maische darf lange stehen und spontan vergären. Der Ausbau findet in neuen und alten Holzfässern statt, bis zu 22 Monate darf er dort liegen. Dann wird der Wein ungefiltert abgezogen. Das alles benötigt vor allem eines: Geduld.

Aber die zahlt sich aus. In der Blindprobe erinnern seine Gutedel an burgundische Tropfen. Prägnante Säure und etwas Tannin formen seine Weine.

Ziereisens Flaggschiff ist der Jaspis 10 hoch 4. Es ist der teuerste Gutedel Deutschlands. 125 Euro pro Flasche. Alte Reben, unfiltriert, 22 Monate Fassreife. Dieser Wein durfte in Würde altern. „Hier will ich sehen, was man mit dem Gutedel alles machen kann“, sagt Ziereisen. Es finden sich untypische Aromen wie Feuerstein, den Wein begleitet viel Mineralität. Das Holz kommt deutlich durch. Ziereisen sagt: „Wild muss er sein und hefig.“ Das gefällt nicht allen. Die amtliche Qualitätswein- Prüfungsstelle lehnte seine Weine als „nicht gebietstypisch“ ab. „Die verstehen unsere Weine nicht“, sagt Hanspeter Ziereisen. Es stört ihn nicht sonderlich. „Dann schreibe ich eben ‚Badischer Landwein‘ drauf.“

In einem Peugeot, Baujahr 1996, fährt Hanspeter Ziereisen in den Weinberg. Scheinbar unaufhaltsam rumpelt die französische Klapperkiste über Stock und Stein entlang der Reben. Die ersten Blüten treiben aus. Die Triebspitzen des Gutedels sind auffallend rötlich. Die scharf gesägten Blätter durchlaufen rote Adern. In der vergangenen Woche hat sich Frost auf die Pflanzen gesetzt: „Aber nur in den unteren Lagen. Alles erholt sich gut, die Knospen kommen schon wieder.“ Glück gehabt.

Unvermittelt bleibt Ziereisen an einem Zaun stehen. Mit einem Stechheber und zwei Weingläsern steigt er aus dem Auto, bleibt vor einem großen Gullydeckel stehen und sagt: „Das ist unsere Amphore.“ Unter dem Gullydeckel ist ein 500 Liter großer Tonkrug verbuddelt. Seit vergangenem Herbst vergärt darin roter Gutedel. „Das ist die ursprünglichste Form der Weinbereitung. Von der Rebe direkt in die Amphore“, sagt Hanspeter Ziereisen. Bei der nächsten Lese ziehen sie den Wein ab und füllen die Amphore direkt wieder auf. „Man weiß nie, was rauskommt“, sagt er. „Das ist spannend.“ Ziereisen nimmt einen Schluck aus seinem Glas, schlürft, schwenkt und sagt: „Toll, Himbeernoten, leichte Rosé-Töne, der wird was.“

Ungewöhnliche Experimente

Die Amphore ist eine dieser Ideen, wie sie offenbar nur im Weingut Ziereisen entstehen. „Sie ist auf dem Mist von meinem Kellermeister gewachsen.“ Christoph Fischer, 31, arbeitet seit vier Jahren für Ziereisen im Keller. Bis 2015 waren es genau genommen noch sieben Keller. „Wir hatten überall im Ort unsere Fässer liegen“, sagt Fischer. Ständig fuhr er hin und her. Am Reißbrett haben sie einen neuen Keller geplant, der jetzt am Ortsrand unter einem Erdhügel liegt. 740 Holzfässer ruhen hier. „Wir bauen all unsere Weine im Holz aus“, sagt Fischer.

Fischer und Ziereisen vereint die Experimentierfreude. Sie lassen Müller-Thurgau, der einen ähnlich schlechten Ruf wie der Gutedel hat, in besten Barrique-Fässern zwei Jahre ruhen. In einem Fass liegt ein 2015er Gutedel, der zwei Jahre auf der Vollhefe lag und jetzt ungeschwefelt abgefüllt wird. Irgendwo in einer Ecke liegt seit sieben Jahren Wein aus Geiztriebtrauben im Barriquefass. Das sind Trauben, die sich im Spätsommer aus Seitentrieben entwickeln. Andere Winzer lassen sie einfach hängen, da ihre Qualität als mangelhaft gilt. Fischer und Ziereisen versuchen es trotzdem. „Wenn du zu Hanspeter kommst, musst du alles Gelernte vergessen“, sagt Fischer.

Wie Ziereisen seinen Wein ausbaut, hat viel mit seinem ursprünglichen Handwerk zu tun. Er ist gelernter Schreiner. Die Liebe zum Holz ist geblieben. Seine teils mehr als 100 Jahre alten Fässer lässt er aufwendig restaurieren. Und wie der Schreiner müsse auch der Winzer arbeiten: „Schlicht, gerade, einfach. Beim Schreinern will ich das gewachsene Holz spüren und sehen, beim Winzern den Boden und die Lage riechen und schmecken.“

Manche Kritiker sind von Ziereisens Weinen begeistert. „Kein Mainstream“ oder „Ein Gutedel nah an den Burgunder-Weinen“ bescheinigen sie ihm. Aber darüber spricht er nicht. Lieber präsentiert er sein vielleicht ungewöhnlichstes Experiment: Er will Gutedel 50 bis 100 Jahre im Fass reifen lassen. 2007 wurde der erste Jahrgang eingelegt. Wenn Ziereisens Traum wahr wird, kann 2107 irgendwer einen hundertjährigen Gutedel trinken.