Es ist ein logistisches und politisches Mammutunternehmen: Die SPD-Spitze lässt die Basis über die große Koalition entscheiden – zum ersten Mal. Politisch ist diese Entscheidung ein Wagnis.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Mitgliederbefragung – das klingt so einfach. Aber schon ein paar Zahlen verdeutlichen, dass die SPD sich mit dem Basisvotum zur großen Koalition ein logistisches und politisches Mammutunternehmen aufgeladen hat. Erstens ist es erst die zweite bundesweite Mitgliederbefragung der Sozialdemokraten. Zweitens liegt das erste Basisvotum bereits zwanzig Jahre zurück. Damals bestimmten die Parteimitglieder Rudolf Scharping per Urwahl zum neuen SPD-Vorsitzenden. Seither gab es lediglich Befragungen in einzelnen Ländern. Zum Beispiel stimmten die Südwest-Genossen 2011 über den grün-roten Koalitionsvertrag der Landesregierung von Winfried Kretschmann ab.

 

Das Basisvotum in Baden-Württemberg war ein großer Erfolg. 14 000 (37 Prozent) von insgesamt 38 000 Mitgliedern der Landespartei machten mit. 91,7 Prozent gaben der grün-roten Politehe, in der die SPD nur Juniorpartner ist, seinerzeit ihren Segen. Zwischen dem 6. und 14. Dezember geht es nun um eine Neuauflage – auf Bundesebene. Allerdings gibt es den Unterschied, dass die ganze Operation um das Zwölffache größer ausfällt und die Wiederauflage der schwarz-roten Koalition wahrscheinlich um ein Vielfaches umstrittener ist, als das neuartige Bündnis unter dem ersten grünen Ministerpräsidenten vor zweieinhalb Jahren. Gut 470 000 Mitglieder hat die SPD; mindestens 94 000 von ihnen müssen ihre Stimme abgeben, um das Quorum von 20 Prozent zu erreichen. Die Mindestbeteiligung ist die Voraussetzung dafür, dass die Abstimmung bindend ist. Es ist das erste Mal, dass eine ganze Partei über eine Koalition entscheidet. Normalerweise übernehmen dies Parteitage.

Schlitzmaschinen im Sondereinsatz bei den Sozialdemokraten

Um die Briefe mit dem Votum für oder gegen Schwarz-Rot zu öffnen, hat die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles eigens zwei Hochleistungsbriefschlitzmaschinen beschafft, von denen jede 20 000 Umschläge pro Stunde öffnen kann. Mit dem herkömmlichen Brieföffner würden die 400 freiwilligen Helfer, die Nahles für das Auszählen gewonnen hat, viel zu lange brauchen. In Lastwagen werden die in Postsäcken verpackten Schreiben der Basis angeliefert werden. Für die Auszählung hat die SPD die „Station“ angemietet. Das ist eine Veranstaltungshalle in der Luckenwalder Straße, die fast 100 Jahre lang der zentrale Postbahnhof Berlins war. Zwei Tage veranschlagt die SPD für das Auszählen.

Damit die Genossen sich auf ihre Entscheidung vorbereiten können, bekommen sie vom 30. November an die Unterlagen für die Mitgliederentscheidung. Mit separater Post sollen sie eine Sonderausgabe der Parteizeitung „Vorwärts“ erhalten, in der der Koalitionsvertrag abgedruckt ist. Alle 473 000 Briefe mit den Abstimmungsunterlagen sollen laut dem Generalstabsplan von Andrea Nahles spätestens am Nikolaustag im Briefkasten der Mitglieder liegen. Bis spätestens zum 12. Dezember müssen die ausgefüllten Stimmzettel im Postfach des Parteivorstands angekommen sein. Danach wird ausgezählt. Nach langen Debatten hat sich der Parteivorstand für die Briefwahl entschieden.

„Jeder soll sich beteiligen können“, sagt Andrea Nahles zur Begründung, „auch wer krank oder nicht mehr so beweglich ist.“ Die Generalsekretärin hat keine Sorge, das Quorum zu verfehlen. Die Beteiligung der Basis sei attraktiv nicht nur für langjährige Sozialdemokraten, betont sie. „Wir hatten im Oktober 2500 Parteieintritte – normal ist ein Wert um Tausend.“ Billig wird die Befragung der Genossen nicht. Für Porto, Hallenmiete, die Sonderausgabe des „Vorwärts“ und die Schlitzmaschinen wird die SPD ungefähr eine Million Euro ausgeben müssen.

Bibbern vor dem unbekannten Wesen an der Basis

Andrea Nahles hat nach eigenem Bekunden „Respekt“ vor der Aufgabe, den Mitgliederentscheid so zu organisieren, dass alles fristgerecht klappt. Sie ist nicht die einzige, die Bammel hat. Weil die große Koalition nicht zustande kommt, wenn die SPD-Basis ihre Zustimmung verweigert, bibbern Sozialdemokraten und Unionisten im Kollektiv. Denn Gewissheit, dass die Basis der Parteiführung folgen wird, gibt es nicht. In Wahrheit weiß niemand, wie die Sozialdemokraten ticken. Lediglich 20 Prozent der SPD-Mitglieder sind in ihren Ortsvereinen aktiv. Von der schweigenden Mehrheit weiß die Partei nur eines mit Sicherheit: dass sie ihren Mitgliedsausweis bisher nicht zurückgegeben hat. Der einfache Genosse ist derzeit die große Unbekannte der Berliner Politik.

Um die Mitglieder für den Koalitionskurs zu gewinnen, hat der SPD-Chef Sigmar Gabriel seit der Bundestagswahl jeden Anschein eines Alleingangs vermieden. Koalitionsverhandlungen hat er erst aufgenommen, als der Parteikonvent den Auftrag dazu erteilt hatte. Sämtliche Spitzenpolitiker der SPD sind in die Gespräche eingebunden. Die Mitglieder informiert Gabriel regelmäßig per E-Mail. Beim Parteitag in Leipzig hat er versprochen, der Basis einen Koalitionsvertrag nur dann zur Abstimmung vorzulegen, wenn er eine sozialdemokratische Handschrift trägt. „Du wirst also darüber entscheiden, ob wir in einer Koalition mit der Union genug politischen Fortschritt für die Millionen von Menschen erreichen können, die nicht zuletzt auf die Sozialdemokratie setzen, um ihre Lebensumstände zu verbessern“, hat Gabriel den Mitgliedern geschrieben.

Operation mit hohem Risiko

Damit legt er nicht zuletzt sein politisches Schicksal in die Hände der Mitglieder. Scheitert der Mitgliederentscheid, hat die ganze SPD-Führung so gut wie keine Überlebenschancen. Deshalb schwärmen die Spitzen-Genossen in alle Regionen aus, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Am Freitag startet die Kampagne in Baden-Württemberg. Generalsekretärin Andrea Nahles kommt dann als erstes nach Leinfelden-Echterdingen. Tags drauf stellt sich Parteichef Sigmar Gabriel der Diskussion mit der Basis in Bruchsal.