Das Stuttgarter Verwaltungsgericht setzt Maßstäbe für die Politik. Das klare Votum für den Gesundheitschutz lässt auch die lavierende Landespolitik schlecht aussehen, kommentiert Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Jeder der sich auf ein Thema fokussiert, läuft Gefahr, dass sich sein Blick verengt. Das ist häufig der Fall, wenn man Probleme vor der eigenen Haustür unter dem Brennglas betrachtet. Man übersieht dann leicht, wie klein sie im Vergleich mit anderen sind. Das Sterben im Mittelmeer, die Kriege und Krisen weltweit, der Terror – das alles wiegt weit schwerer als die Frage, wie in Stuttgart die EU-Grenzwerte für Stickoxide eingehalten werden können. Und doch: Für die Menschen in Stuttgart und der Region ist äußerst bedeutsam, was das Stuttgarter Verwaltungsgericht am Freitag im Rechtsstreit zwischen der Deutschen Umwelthilfe und dem Land Baden-Württemberg verfügt hat – nämlich eine klare Prioritätensetzung: Gesundheitsschutz geht vor Handlungsfreiheit und vor Eigentum. Die Wirkung dieses Richterspruchs reicht weit über Baden-Württemberg hinaus. Insofern hat dieses lokale Ereignis eben doch eine große Relevanz.

 

Dazu trägt der Vorsitzende Richter Wolfgang Kern entscheidend bei. Er hatte den Vertretern des Landes bereits zum Prozessauftakt unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ihre bisherigen Maßnahmen zur Reduzierung der Schadstoffbelastung unzureichend sind. Im mündlichen Urteil am Freitag legte er diese Unzulänglichkeit systematisch dar. Deutlicher kann man der Politik nicht zu verstehen geben, dass sie ihre Hausaufgaben beim Luftreinhalteplan nicht gemacht hat, obwohl ausreichend Zeit war.

Zur Erinnerung: Die heutigen Grenzwerte für Stickoxide gelten seit 2010. In diesem Zeitraum sind die Autos und die Luft erheblich sauberer geworden. Dennoch belasten Stickoxide mit ihrem krank machenden Potenzial weiterhin die Luft. Kritiker reden diese Gefahr klein; sie halten die Grenzwerte für zu ambitioniert. Das erlaubt jedoch nicht, sie zu ignorieren. Es ist, als würde man die Sinnhaftigkeit von Tempo-30-Zonen anzweifeln. Wer sich darüber hinwegsetzt, handelt vorschriftswidrig und muss die Konsequenzen tragen.

Grüner als die Grünen

Angesichts des Urteils könnte man flapsig sagen: Das Verwaltungsgericht argumentiert so grün, wie das grüne Landesverkehrsministerium sein sollte. Tatsächlich jedoch entwickelt der Richter seine Argumentation strikt aus dem überragenden Gut des Gesundheitsschutzes heraus. Das steht in einem wohltuenden Kontrast zur wirren, von Taktiererei geprägten politischen Debatte um die Luftreinhaltung. Die grün-schwarze Landesregierung agierte dabei im Stil der Echternacher Springprozession: zwei Schritte vor, einer zurück. Fahrverbote ja, dann wieder nein, dafür massenhaft Zusatzschilder, zugleich die heimliche Hoffnung auf die Blaue Plakette einerseits und das Können und das Wollen der Automobilindustrie beim Thema Nachrüstung andererseits. Ein bizarres Klein-Klein unter Beteiligung des Bundes. Das Verwaltungsgericht hat jetzt das Unverhandelbare in den Vordergrund gestellt: die Gesundheit. Die Verantwortlichen werden als Folge daraus viel Geld in die Hand nehmen und ein Technikwunder vollbringen müssen, sonst kommen unweigerlich Fahrverbote für ältere Diesel.

In deutlichem Kontrast steht diese Klarheit im Übrigen auch zu den empörenden Vorgängen in Teilen der Automobilindustrie. Schadstofftricks, wie sie jetzt spektakulär beim Porsche Cayenne aufgeflogen sind, waren nicht Gegenstand des Stuttgarter Verfahrens. Ableitungen sind jedoch erlaubt: Die Gesundheit steht auch über wirtschaftlichen Interessen.

Was also ist zu tun? Klar Schiff machen auf allen Ebenen. In dem Fall heißt das: klar Auto machen – beginnend mit dem Autogipfel am Dienstag in Berlin. Was das Land betrifft: Es muss den Richterspruch an- und ernst nehmen. Gleichzeitig gilt es, urbane Mobilität gemeinsam neu zu denken. Wenn das kein großes Thema ist!