Anette Wendler-Krug ist von Angehörigen sexuell missbraucht worden. Auch um nicht länger Scham und Schuld zu empfinden, schweigt sie nicht mehr. Vor allem aber will sie anderen Mut machen.

Ditzingen - Wenn die zierliche Frau erzählt, dann hält sie manchmal kurz inne. In diesen Momenten wendet sich ihr Blick ab, er schweift in die Ferne. Es ist dann, als hole sie sich den Missbrauch vor Augen, der sie so viele Jahrzehnte lang beherrscht hat. Es sind bewusste Erinnerungen an Gewalt, vor allem aber viel tiefer gehende, lange unbewusste Eindrücke von dem, was ihr Großvater ihr angetan hat, andere Angehörige auch und Außenstehende, die ihr nahestanden. Zurück aus dem Moment der Erinnerung sagt sie: „Es stimmt schon, der Missbrauch sitzt in jeder Pore.“ Und dann erzählt sie sachlich, distanziert und sagt. „Es ist immer ein Teil von mir. Aber ich bin viel mehr als der Missbrauch.“

 

Sie will sich nicht mehr von der Vergangenheit beherrschen lassen. Von der Gewalt, der Ohnmacht, dem Vertrauensverlust, von der Opferrolle, in der sie sich selbst in verschiedensten Situationen immer wieder fand, vom Zwang auch, immer besser sein zu müssen als die anderen. Ob zuhause gegenüber einer Mutter, die das Kind nie haben wollte, in der Schule oder später im Beruf als gelernte Bürokauffrau in Stuttgart.

„Nach außen hin war es eine heile Welt“, sagt die 51-Jährige über ihre Familie. Einmal zwar hatte sie furchtbare Schläge bekommen. Daran erinnerte sie sich zeitlebens. Von dem vielfachen Missbrauch hingegen wusste sie lange Zeit nichts, sie hatte ihn verdrängt. Doch seelische und körperliche Demütigungen begleiteten weiter ihr Leben. Sie fühlte sich wehrlos. „Ich hatte glückliche Phasen“, sagt Wendler-Krug auch, aber es gab eben immer wieder die Situationen, in denen sie wie fremdbestimmt reagierte. „Ich lebe hier etwas, was ich nicht bin“, erzählt sie, was sie in diesen Momenten dachte und sich darüber wunderte, dass sie in Situationen kam, die sie nicht wollte. Und so wechselten sich all die Jahre die glücklichen Momente ab mit den Szenen der Gewalt, wenn andere sexuell übergriffig wurden, ihr Vertrauen ausnutzten und die eigene Macht missbrauchten. Als Teenager, als junge Frau. Deren Grenzen immer wieder andere überschritten.

Auch glückliche Phasen

Doch irgendwann war es genug, die Frau wollte mehr über sich erfahren. Das war im Herbst 2016. Sie begab sich in Therapie, nicht wissend, auf was sie sich einlassen würde. Sie war sich bis dahin ja nicht bewusst, was ihr in der Familie angetan worden war. Sie wollte eine Antwort auf all ihre Fragen. Dass es so schmerzhaft werden würde, ahnte sie nicht. Aber sie blieb dabei, denn sie hatte sich eines geschworen: „Mich holen diese Dinge nie wieder ein.“ Daran hält sie bis heute fest. Als die Familie von den Therapieergebnissen erfuhr, sei sie zunächst auf Distanz gegangen, erzählt Wendler-Krug. Langsam nähern sich die Geschwister wieder an. Ihre Peiniger aber hat sie nie mit ihren Taten konfrontiert, unter anderem auch, weil sie starben, ehe Wendler-Krug darüber reden konnte.

Thema soll nicht länger tabu sein

Sie kann heute davon erzählen, vor allem aber will sie nicht länger darüber schweigen, Missbrauch in der Familie solle nicht länger ein Tabuthema sein. Sie arbeitet inzwischen halbtags, um die andere Zeit bei sich in Heimerdingen Kurse als Gesundheits- und Mentalcoach anzubieten, sie macht, was sie gerne macht: Andere zu motivieren, Stärken zu erkennen und zu nutzen und ihnen etwas beizubringen, das habe ihr immer gelegen, erzählt sie.

Ob früher als Übungsleiterin im Sportverein oder später im Beruf. „Ich kann meine Erfahrung nicht weitergeben, ich kann sie nur spiegeln“, sagt sie. So will sie andere ermutigen, mit dem Erlebten zu leben. „Es gibt einen Weg“, davon ist sie überzeugt. „Das Glück ist möglich, wenn wir es uns zugestehen.“ Sie selbst hat beschlossen, zu leben, was sie ist, was sie authentisch macht, denn keiner soll je wieder Macht über sie haben: „Ich will frei sein.“