Die Krimiautorin Donna Leon hat in der Alten Reithalle über ihre große Passion geplaudert und sich gegen die barrierefreie Stadt ausgesprochen. Über ihren Commissario Brunetti sagt sie: „Er ist ein Mann, wie ich ihn gerne in meinem Leben hätte.“

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wo ist Donna Leon? Eben hat die Moderatorin Thea Dorn das Publikum mit den Gegebenheiten einer Fernsehaufzeichnung vertraut gemacht, hat Mikrofone geprüft, den Applaus getestet, die Gebrauchsanweisung des Übersetzungsgerätes referiert. Jetzt könnte es eigentlich losgehen, doch die Hauptperson, die im Herbst ihren siebzigsten Geburtstag feiert und eben den zwanzigsten Fall ihres Erfolgskrimigeschöpfes Brunetti vorgelegt hat, macht es spannend.

 

Dorn, die die Losung beherzigt, immer unbeirrt weiterzureden, auch wenn man beirrt ist, läuft in dieser Disziplin zu großer Form auf. Trotzdem: eine Krimiautorin würde der Veranstaltung guttun. Es wird doch nichts . . . Nein, alles in Ordnung. Mit gepflegtem Silberhaar und bunten Schuhen schwebt die Präjubilarin herein, in einer eigentümlichen Mischung von Extravaganz und Bescheidenheit. Genau in dieser Grundspannung liegt der Kern jeglichen kriminalistischen Vergnügens: dass sich hinter dem scheinbar Alltäglichen, Geordneten, unversehens das Besondere, Außerordentliche behauptet.

„Er ist ein Mann, wie ich ihn gerne in meinem Leben hätte.“

Welche dunklen Geheimnisse etwa hütet Donna Leon, dass sie nach dreißig Jahren im glänzenden Licht der Lagune noch immer von Zorn und Wut überwältigt wird, wenn sie an eine neunmonatige Dozentur in Saudi-Arabien zurückdenkt, vor allem an die Weise, in der sie dort von den Männern behandelt wurde? Und in welchem Verhältnis steht dazu jener liebenswürdige, gebildete und humorvolle Commissario, der in ihrer venezianischen Wahlheimat mit Abgründen konfrontiert ist, ohne den Glauben an das Gute im Menschen und in der italienischen Küche zu verlieren. „Er ist ein Mann, wie ich ihn gerne in meinem Leben hätte“, sagt Donna Leon. Ein Traummann und Gegenbild zu jener traumatischen Männlichkeit, gegen die ihr Venedig zum emotionalen Schutzort wurde.

Dabei spiegeln sich in Venedigs Kanälen nicht nur malerische Palazzi, sondern auch achtlos entsorgte Waschmaschinen. Leon betet ihren Lebensraum nicht schöner als er ohnehin schon ist: Der italienische Mangel an ziviler Verantwortung zeigt sich im Alltag mindestens so störend wie das Übermaß einer die Grundfesten der Stadt erschütternden touristischen Totalpräsenz.

Was Brunetti einbringt wird in Musikprojekte investiert

Trotz allem sei Venedig eine gute Stadt zum Altern, wegen der vielen Brücken und Treppen. Man bleibe fit und sehe nicht viele dicke Senioren. Vielleicht ist die Zeit an ihren Akteuren deshalb scheinbar so spurlos vorübergezogen. Oder doch nicht? Schließlich führt des Commissarios jüngster Fall „Reiches Erbe“ in ein venezianisches Altenheim: Auch die fittesten Alten sind gegen den Tod nicht gefeit.

Immerhin zwanzig Romane hat die Verbindung zu Brunetti gehalten. Dabei gibt es einen zweiten Mann in Donna Leons Leben, den Komponisten Georg Friedrich Händel. Ihm widmet sie ihre brunettifreie Zeit, oder wie Thea Dorn diese ideale Ménage-à-trois umschreibt: was die Milchkuh Brunetti einbringt wird in ehrgeizige Musikprojekte reingebuttert.

„Hören Sie sich mal was Anständiges an.“

Um diese Passion ging es im zweiten Teil, in dem der Barockliebhaber und FAZ-Korrespondent Dirk Schümer den Händelianer als solchen erklärte. Darunter muss man sich einen merkwürdigen Vogel vorstellen, der seine Balzzeit während der großen Festivals hat und auch gerne achtmal hintereinander in dieselbe vierstündige Oper geht. Eigentlich ein Fall für den Arzt – wie Wagnerianer, was Schümer nicht hindert, die sich zur zweiten Spezies bekennende Thea Dorn aufzufordern: „Hören Sie sich mal was Anständiges an.“

Vom Gegenstand dieser Leidenschaft legten die Staatsopernsänger Diana Haller und Roberto Ortiz einige klavierbegleitete Kostproben ab, „greatest hits“ aus Xerxes, Alcina und aus Vivaldis „Juditha triumphans“. Gut gemeint, im Falle Hallers auch gut gesungen, insgesamt aber eher der Atmosphäre eines Altenheims angemessen als der Interpretationskultur barocker Musik, für deren Patronage der Name Leon mittlerweile steht. Mit einer Zornarie aus Vivaldis Oratorium rundet sich der Abend. Judith rast durch die Koloraturen, als hätten saudische Männer sie in Rage gebracht. Welche Konsequenz die schwertschwingende Heldin gezogen hat, ist bekannt. Wieder ein toter Senior. Aber den Fall Holofernes wird Commissario Brunetti vermutlich nicht lösen müssen.