Nach den Dopingfällen der 100-Meter-Sprinter Tyson Gay und Asafa Powell werden die Zweifel an sportlich herausragenden Vorstellungen immer größer – ob bei Tour de France oder in der Leichtathletik.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Dave Brailsford hatte genug gehört. Es war Montag im Teamhotel des Radrennstalls Sky im Ort Orange. Der Ruhetag der Tour de France, aber die Meute vor ihm wollte keine Ruhe geben. Doping, immer wieder Doping. Sichtlich genervt sprach der Teamchef dann in die Presserunde: „Ich frage Euch: Was sollen wir tun? Sagt mir, was wir tun können, um zu beweisen, dass wir sauber sind?“ Sie wissen nicht, was sie tun sollen.

 

Anderer Sport, gleiches Thema: am Sonntag wurden die positiven Tests der Sprintstars Asafa Powell (Jamaika) und Tyson Gay (USA) bekannt. Helmut Digel, Mitglied im Council des Weltverbandes IAAF, sagte: „Damit werden alle Spitzenleistungen infrage gestellt.“

Quo vadis? Eine große Frage, aber vielleicht ist sie angebracht. Wie nie zuvor kämpft der Hochleistungssport um seine Glaubwürdigkeit.  Die Dopingfälle in der Leichtathletik und die TourLeistung von Chris Froome haben eine intensive Debatte über Vertrauen und Misstrauen ausgelöst. „Der Stammtisch denkt: die sind eh alle voll“, sagt Digel. „Der Verfall des Leistungssports beschleunigt sich.“

Der exzessive Betrug hat die Glaubwürdigkeit zerstört

Der Spitzensport sitzt in der Falle. Die Leistungsmaximierung ist der Grundgedanke, doch zu viele maximale Vorstellungen waren in der Vergangenheit nicht echt. Durch Doping wurden Hochleistungsboliden zusätzlich getunt. Der exzessive Betrug hat die Glaubwürdigkeit nicht nur im Radsport zerstört. Dort wird jetzt eine neue Sauberkeit propagiert, die sich trotz aller Kontrollen und Bemühungen aber niemals beweisen lassen wird. Radprofis haben leidenschaftlich auf ihre Kinder, ihre Großmutter und ihr Augenlicht geschworen, dass sie sauber seien. Sie waren es nicht, wie man heute weiß, warum also sollte man diesmal wieder in die Falle gehen und den wortreichen Beteuerungen Glauben schenken?

Helmut Digel sagt, dass der Radsport in einem Transformationsprozess sei. Zurück zum Fairplay. Er ist Vorreiter und geht einen Weg, den andere Sportarten wie die Leichtathletik vielleicht erst noch vor sich haben. Nirgends wird, natürlich auch aufgrund der Vielzahl an Fällen, so viel und so offen über das Doping gesprochen. Doch wann ist der Punkt erreicht, an dem das Vertrauen zurückkehrt? „So ein Wandel ist ausgesprochen schwierig“, sagt Digel. „Glauben gewinnt man schwer zurück.“

Usain Bolt ist der schnellste Mensch der Welt, die meisten anderen aus der Top Ten wurden positiv getestet. Kann ausgerechnet der Schnellste seiner Art dann trotzdem sauber sein? Chris Froome wird wohl ein Rennen gewinnen, in dem vor ihm fast nur überführte Radfahrer triumphiert haben.

Bolt ist das perfekte Gesamtpaket eines Sprinters

Vielleicht ist Chris Froome einfach nur besser als alle anderen Athleten. Vielleicht ist Usain Bolt ja einfach nur ein Jahrhundertläufer.

Auch das ist ja denkbar. Es gab Leonardo da Vinci. Albert Einstein. Aristoteles. Menschen, die in ihren Bereichen alles übertroffen haben. Sie haben Dinge vollbracht, die, ja: unglaublich sind, sei es künstlerisch, wissenschaftlich oder alles zusammen. Genau so gibt es auch Sportler, die eine Laune der Natur sind, ausgestattet mit Fähigkeiten, die Normalsterblichen unvorstellbar erscheinen. Bolt und Froome sind von der Natur mit der entsprechenden Physis begünstigt worden. Froome hat ein entsprechendes Herz und ein riesiges Lungenvolumen, heißt es bei Sky. Und Bolt wird das perfekte Gesamtpaket der Biologie für einen Sprinter attestiert.

Hochleistungssportler sind Humanoide an der Schwelle. Sie bewegen sich im Grenzbereich des menschlichen Körpers, entsprechend sind auch ihre Leistungen grenzwertig. Bei der Selektion des Hochleistungssport aus vielen Millionen Menschen schaffen es jenseits allen Dopings nur die an die Spitze, die den besten Genpool haben. Jeder für sich ist ein begnadetes Talent, und in dieser Elite des Sports gibt es immer einen, der noch mal hervorsticht. Ein Besserer unter Gleichen.

Wenn alle sauber sind, wird man das nicht sehen: Bei der Tour wird es weiter Unterschiede geben. Einer wird immer stärker sein, vielleicht auch deutlich, und irgendeiner ist auch immer schneller als die Konkurrenz. Reinheit macht nicht alle gleich. Aber in dieser Vertrauenskrise sind außergewöhnliche Leistungen gleichbedeutend mit Zweifeln. Vielleicht ist es ja sogar sauber möglich, in den Dimensionen eines Usain Bolt zu laufen, nur wird sich das nie beweisen lassen. Der Sport ist gefangen in dem Dilemma.

Objektive Daten für sauberen Sport gibt es nicht.

Die Radfahrergewerkschaft CPA kritisierte jetzt das Verhalten gegenüber Chris Froome scharf: „Es ist nicht fair, jemanden zu beschuldigen, ohne Beweise zu haben.“ Der Rechtsgrundsatz „In dubio pro reo“ hat sich im Sport schon lange verkehrt, im Zweifel fällt das Urteil nicht für den Athleten, sondern er soll seine Reinheit beweisen, was unmöglich ist. Das ist das traurige Vermächtnis all der vielen Sportbetrüger an ihre Nachkommen.

Der britische Verbandschef Brian Cookson fragte: „Sind wir soweit zu sagen, dass jede außergewöhnliche Leistung per Definition von Doping getrieben ist?“ Sind wir so weit? „Was muss passieren, damit wir wieder bereit sind, einen Vertrauensvorschuss zu geben?“, fragt selbst der bekannte irische Antidopingexperte Paul Kimmage, noch immer einer der größten Kritiker des Profiradsports, ratlos.

Objektive Daten für sauberen Sport gibt es nicht. In der Leichtathletik oder im Schwimmen gibt es zwar eindeutige Vergleichswerte, nackte Zahlen. Aber neben Doping gibt es auch andere leistungsfördernde Faktoren wie Trainingswissenschaft, Material und so weiter, die sich weiter entwickeln. Wo der Bereich beginnt, der nur noch mit Doping zu erklären ist, lässt sich kaum sagen. Bernhard Kohl hat sich nach einer Tour-Etappe 2008 völlig entkräftet hingeschmissen. Er litt wie ein Hund, und es galt als Zeichen, dass es menschlicher zugehe. Leiden als Indikator. Kaffeesatzleserei im Gesicht, mangels Alternativen. Später wurde der Österreicher des Dopings überführt: „Wenn das als Gradmesser für Reinheit gilt, dann werden künftig alle im Ziel zusammenbrechen“, sagte der ehemalige Gerolsteiner-Teamchef Hans-Michael Holczer.

Der Rennstall Sky hat der „L’Equipe“ nun ein paar von Froomes Leistungsdaten übermittelt, die die Zeitung einen Experten auswerten ließ. Der kam zu dem Urteil, dass die Werte durchaus stimmig seien. Die außerordentliche Leistungsfähigkeit, die Froome in einem Zeitraum von maximal fünf Minuten entwickeln könne, verschaffe ihm gegenüber anderen Fahrern einen Vorteil. Er bewege sich in einem Grenzbereich, aber es sei noch menschenmöglich. Es könne also sein. Glauben heißt nicht wissen.

Helmut Digel sagt, dass der Sport seiner pädagogischen Aufgabe nicht mehr gerecht werde. „Wir haben uns gnadenlos den Gesetzen des Marktes unterworfen, und wollen immer mehr Spektakel bieten.“ Das Doping begünstigt. Aber: „Es ist paradox. Die Zuschauer wenden sich nicht ab, obwohl sie so oft betrogen werden. Sie erwarten fast, dass die gedopt sind und genießen es trotzdem.“