Dem heute 35-jährigen Rainer Müller (Name geändert) erscheint die nun beginnende Diomorphinabgabe in Stuttgart als eine Erlösung. Er hat über mehr als 20 Jahre hinweg Heroin konsumiert und zur Finanzierung seiner Sucht auch allerlei Straftaten begangen.

Stuttgart - Wenn es Heroin beim Doktor gibt, sind meine Probleme gelöst.“ Es ist Rainer Müller (Name geändert), 35 Jahre alt und seit mehr als 20 Jahren drogenabhängig, der diesen Satz sagt. Er sitzt in Jeans und T-Shirt im Wartezimmer der neu eingerichteten suchtmedizinischen Schwerpunktpraxis von Andreas Zsolnai in der Kriegsbergstraße 40. Dort wird es von dieser Woche an Diamorphin, also synthetisch hergestelltes Heroin, auf Rezept geben. 50 schwerst Drogenabhängige wird Zsolnai in den nächsten Tagen in das Programm aufnehmen, einer davon ist Müller. Für den Suchtmediziner ist klar: „Es gibt eine bestimmte Gruppe Drogenabhängiger, die mit der Methadon-Substitution nicht klarkommen. Mit Diamorphin aber können wir diese Leute gesundheitlich stabilisieren und auch an die Abstinenz heranführen.“ Für Stuttgart ist die Diamorphinabgabe ein weiterer Schritt in einer gut ausgebauten Suchthilfe-Landschaft, für den 35-Jährigen ist es der Weg aus der Illegalität.

 

Im Alter von 13 Jahren erstmals Heroin geraucht

Müller hat lange auf das Diamorphin gewartet, aber auch die Stuttgarter Politik und Verwaltung mussten sich gedulden. Der Gemeinderat entschied sich zwar bereits 2009 dafür, in der Landeshauptstadt eine kontrollierte Heroinabgabe einzurichten, die Landesregierung aber, damals noch unter Führung der CDU, tat sich schwer damit, „Heroin auf Rezept“ zuzulassen. Erst ein Jahr später ebnete das Land den Weg. 2,5 Millionen Euro hat die Stadt in den Umbau der Räume in der Kriegsbergstraße investiert. „Es war ein langer und nicht immer einfacher Weg bis zur Eröffnung. Umso mehr stimmt mich der heutige Tag stolz“, sagt Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP).

Auch Müller kam mit dem Methadon nie zurecht, weil der „Kick“ fehlt, den das Heroin verschafft und den er seit seinem 13. Lebensjahr kennt. Von zu Hause war Müller damals bereits abgehauen und fing an, Heroin zu rauchen, das er auf einer Alufolie erhitzte. „Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich aufgehoben und daheim“, erzählt er. Ein halbes Jahr später setzte er sich die erste Spritze im Klo einer Imbisskette. Auch nach 22 Jahren auf Droge wirkt der Esslinger nicht wie ein kaputter Junkie, obwohl er körperlich schwer mitgenommen ist. „Ich will nicht, dass man mir meine Sucht ansieht.“

Der Körper ist übersät von Nadelstichen

Deshalb sticht sich Müller im Sommer nicht in die Arme, und auch bei 30 Grad trägt er lange Hosen, dann bleibt der jüngste Bluterguss an der Wade unsichtbar. Der Körper des 35-Jährigen ist übersät von Nadelstichen, die Venen in den Armen sind vernarbt. Wenn sich Müller eine Spritze setzen will, kann es 15 Minuten dauern, bis er an irgendeinem Ort des Körpers zu einer Ader durchdringt.

Der Junge schmiss früh die Schule, mied seine Eltern. Wenn die Polizei ihn nach Hause zurückbrachte, verschwand er nach einer Stunde wieder. Auch in den Wohnheimen für Jugendliche blieb er nie länger als ein paar Nächte. Müller, damals Punker mit Irokesenschnitt, entzog sich nicht nur den Eltern, sondern auch allen staatlichen Hilfsangeboten. „Ich schlief auf der Straße oder bei Freunden.“ Sein ständiger Begleiter in dieser Zeit war ein Dackel mit dem biederen Namen Waldi und ein gleichaltriger Freund, der wegen einer Überdosis das 18. Lebensjahr nicht erleben sollte.

In Läden Sachen gestohlen und Haschisch verkauft

Müller trampte nach Berlin, nach Hamburg, nach München, hauste in besetzten und vermüllten Häusern und dachte nicht daran, ins Elternhaus zurückzukehren. „Alles war für mich ein Abenteuer.“ Ein düsteres freilich, das immer nur ein Ziel kannte: die nächste Dosis. Dafür klaute Müller in Läden, dafür verkaufte er Haschisch und brach in Wohnungen ein. „Ich habe alles gemacht außer Prostitution.“ Drei Mal war der Esslinger im Gefängnis, die übrige Zeit ist er meist auf Bewährung. Als mit 15 Jahren zum ersten Mal die JVA drohte, erklärte Müller sich zur Methadon-Substitution bereit. Inzwischen bekommt er 15 Milliliter Polamidon als tägliche Dosis, die er trinken sollte. Das Trinken aber reicht ihm nicht, immer wieder spritzt er sich Heroin, manchmal unerlaubterweise auch das Polamidon. „Ich bin nadelgeil“, sagt der 35-Jährige. Gebracht hat ihm sein Beikonsum bisher vor allem eines: den Rauswurf aus vielen Praxen. Neun Suchtmediziner haben den Junkie bisher betreut, Zsolnai ist der zehnte.

Tagelang mit Krämpfen und Schlaflosigkeit gequält

Clean war Müller immer nur im Gefängnis. Nach einem Ladendiebstahl auf Bewährung kam er im Jahr 2000 in die JVA Stammheim, wo sein Entzug begann. „Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet“, erinnert sich der 35-Jährige, der sich tagelang in seiner Zelle mit Krämpfen, Übelkeit und Schlaflosigkeit quälte. Drei Monate dauerte der Entzug, zwei Jahre war Müller im Knast. Aber schon eine Stunde nach seiner Entlassung spritzte er sich wieder Heroin. „Für mich war immer klar, sobald ich draußen bin, fange ich wieder an.“ Die Frage nach dem Warum beantwortet der 35-Jährige kurz: „Es ist das Einzige, was mich halbwegs zufrieden macht.“

Die gesetzlich geregelte Diamorphinabgabe erscheint Müller wie eine Erlösung: Er muss kein Geld mehr fürs Heroin auftreiben, er muss nicht mehr befürchten, in die nächste Polizeikontrolle am Bahnhof zu geraten. Das Programm wird ihm einen geregelten Tagesablauf ermöglichen, auch wenn er künftig jeden Tag mindestens einmal in die Praxis kommen muss, um sich das künstliche Heroin unter Aufsicht zu spritzen. Mit seinen Eltern hat er sich ausgesöhnt, seine Wohnung schafft er in Ordnung zu halten. Zum ersten Mal denkt der 35-Jährige über eine Ausbildung nach. Altenpfleger könnte er sich vorstellen. Aber er weiß auch: „Wer lässt mich schon an einen Medikamentenschrank?“