Der angehende Pfarrer Cornelius Breuininger aus Schorndorf meldet sich 1914 begeistert als Freiwilliger an die Front. Nach vier Jahren weiß er: Es war Wahnsinn. Durch seine Tagebucheinträge wird der Erste Weltkrieg noch heute lebendig.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Schorndorf - Er glaubt Gott fest an seiner Seite. Mit 24 Jahren zieht Cornelius Breuninger, evangelischer Vikar aus Schorndorf, in den Ersten Weltkrieg. Er will mitkämpfen für eine gerechtere Friedensordnung in Europa. Unter deutscher Leitung. Im Namen des Schöpfers.

 

Im September 1914 wird er nach Nordfrankreich transportiert. Die Front ist erstarrt, die Deutschen buddeln sich ein. Der erhoffte Männerkrieg verkommt zur Materialschlacht, zum Feldzug der Maschinen. Die Soldaten krebsen in Schützengräben und Erdlöchern herum. Ein Maulwurfsleben. Nach einem halben Jahr wird Breuninger zum Offizier befördert. Seine Per-spektive wechselt. Fern der unmittelbaren Feuerlinie erlebt er die Front wie hinter einem Vorhang. Während „draußen“, wie er immer sagt, das Drama Krieg gegeben wird, gleicht sein Blickwinkel dem eines Kulissentechnikers, der die Darsteller – geschundene, verstümmelte, tote Soldaten – hinter der Bühne auf- und abtreten sieht, selbst nur zwischen den Vorstellungen nach vorne geht. Er spürt die Einschläge kaum noch hautnah. Draußen krepieren die Feldgrauen wie Vieh, drinnen verfolgt Breuninger das Schauspiel aus rückwärtiger Ansicht. Und sieht doch genug, um zu resignieren.

Er pflegt sein Tagebuch emsig und penibel. Zwölf Bände füllt er bis zu seinem Ausscheiden 1918. Dazu kommen 2000 Fotos. Nach seinem Tod hütet seine Tochter Charlotte Sigel, heute 89, die Ordner und Kisten. Weil die Enkel wenig Interesse am Nachlass zeigen, schreibt sie Frieder Riedel. Riedel hat Theologie studiert, dann 30 Jahre lang Führungskräfte in Konfliktbewältigung trainiert. Seit dem Ruhestand steht sein Hang zur Historie in voller Blüte. Er hat Bücher geschrieben über die Echterdinger Ortsgeschichte, das Elsass – und vor allem über den Ersten Weltkrieg. „Frau Sigel, da haben Sie einen Schatz“, sagt er. „Er gehört Ihnen“, sagt sie. In unzähligen Stunden übersetzt Riedel die akkurate Sütterlinschrift Breuningers, macht ein Buch aus den Aufzeichnungen. Die Originalmanuskripte schenkt er der Württembergischen Landesbibliothek.

Noch nie hat ein deutscher Offizier so starke Kritik an der berüchtigten Aktion Alberich formuliert, bei der 200 französische Ortschaften zerstört und 100 000 Zivilisten deportiert wurden. Auch Breuningers Bilder von den „Vergeltungsfranzosen“ sind einzigartig. Und schließlich seine Position hinter der Kampflinie. Sie verleiht der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts eine eigentümlich irritierende Unschärfe. Der Krieg in Tagesprotokollen. Einige Auszüge daraus:

22.9.14 In Tübingen ab am Sonntag. Die Bevölkerung nahm herzlichen Abschied, galt es doch denen, die in freier ungezwungener Begeisterung ihr Leben fürs Vaterland zu opfern sich entschlossen hatten.

25.9.14 Nun geht es los auf den nördlichen Kriegsschauplatz. Durch das herrliche Saartal mit seinen waldbesetzten und rebumgrünten Bergen. Im engen Tal der Kyll lange Fahrt, dann in die imposante Eifel hinein mit ihren steilen Felsenbargen. Bei Welkenrath die belgische Grenze überschritten. In Dolkain die ersten Spuren des Krieges: verbrannte Häuser und Fabriken. Überall sauberes Vieh auf den Weiden.

30.9.14 Nun sind wir also in Frankreich drin. Man hat eigentlich von diesem Tag schon genug. Ganz in der Nähe feuert Artillerie. Wir liegen im Schützengraben zwischen Arras und Amiens. Die Franzosen knallen drauflos, auch wenn sie nichts sehen. Von unserem Zug hat es zwei Leute buchstäblich zerrissen. Bei Nacht beginnt die Arbeit. Man gräbt sich tiefer in den Boden, macht Höhlen. Manchmal ist es ganz gemütlich in den Löchern. Man raucht seine Pfeife, der Vollbart kommt, ohne dass man ihn sich wünscht. Die Hände sind Negerhände, die Nase läuft wie ein Brünnlein, denn in den kalten Nächten bekommt man Schnupfen.

31.9.14 Es ist ein eigenartiges Bild: Überall auf dem Schlachtfeld läuft Vieh herum, das keinen Herrn mehr hat. Hammel bedecken das Feld. Auch Kühe liegen angeschossen draußen. Kommt bei Nacht so ein Stück vorbei, wird es von den Soldaten gemolken.

2.10.14 Es wurde Nachmittag, bald hellte es sich auf. Auf einmal ging es auf unsere Stellung los. Der Erdboden zitterte ununterbrochen. Dicht bei uns schlugen die Granaten ein. Meinem Nebenmann Nuding aus Urbach zerschmetterte ein Granatsplitter den ganzen Oberschenkel. Schrecklich das Jammern des armen Menschen. Er wollte immer weggetragen werden. Es ging doch nicht. Mein linker Nebenmann aus Welzheim fiel durch einen Schuß in die Stirn. Das ist Soldatentod. Man hat nicht lange Zeit.

10.10.14 Bei dem Getöse ist alles außer Rand und Band. Hunde bellen, Katzen schleichen mit bösem Gesicht daher, Tauben fliegen auf und nieder, Spatzen wissen nicht, wohin sie sich wenden. Nur deutsche Soldaten laufen darin herum, wie wenn nichts los wäre.

Der kaltblütige Kämpfer

17.10.14 Heute ist es ein Jahr, dass wir die Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht feierten. Heute stehen wir ernst in Frankreichs Gauen und kämpfen um unsere heiligsten Güter, die uns welsche Tücke, englischer Neid und russische Barbarei rauben wollen.

21.10.14 Sechs Mann stehen vor dem Kriegsgericht wegen Selbstverstümmelung. Diese Helden haben sich einander in die Hand oder das Bein geschossen. Nun langts eine Kugel oder mindestens 10 Jahre Zuchthaus.

3.11.14 Mir wurde für die Kämpfe um Thiepval das Eiserne Kreuz zuerkannt. Darauf war ich nun nicht vorbereitet. Allerdings, ich habe mich selber gewundert, mit welcher Kaltblütigkeit ich in den Kampf ging.

24.12.14 Meine Leute schmücken mit großer Hingabe den Weihnachtsbaum. Verschiedene kriegerische Embleme werden dran befestigt, meistens Patronen in Staniol eingepackt. Um 9h beginnen wir mit dem alten lieben Lied „O du fröhliche“, das meine Leute mit innerer Anteilnahme singen. Wir saßen noch in trautem Verein beisammen, erzählten von der Heimat, ließen unsere Gedanken in die schönen Tage der Jugend zurückschweifen, sangen von Liebe und Treue.

31.1.15 Heute gerade ein halbes Jahr seit Kriegsbeginn! Welche Erfolge, welche Begeisterung, welche Enttäuschung umfasst dieser Zeitraum. Unglaublich. Ein moderner Krieg, der ein halbes Jahr dauert. Ja, er wird vielleicht ein ganzes Jahr dauern können.

8.2.15 In Grandcourt ist ein Bad eingerichtet. Welch Freude für einen dreckigen Bewohner des Schützengrabens, der ein Bad seit Monaten nicht mehr genoss.

5.3.15 Im Reservelazarett, um meinen Leibenkel Stäbler zu besuchen. Er erzählt mit müder Stimme: Der Tag der Verwundung, die Amputation des Armes, den Fuß muss man vielleicht auch noch abnehmen. Er hat grausame Schmerzen. Er hofft, dass er bald heim darf. Seine Familie hat schwer leiden müssen: der älteste Bruder gefallen, der zweite wegen Nerven zu Hause. Er ein voller Krüppel. Er muss weinen, wenn er spricht.

Von März 1915 an wird Breuninger als Versorgungsoffizier ausgebildet, verantwortlich für Verpflegung, Munitionstransport und Pferdebestand von 1000 Mann. An der Front metzelt man sich ab, hinten feiert man Luthers, Schillers, der Königin, des Kaisers Geburtstag. Breuninger reitet in der Frühsonne, schläft in weichen Betten, vespert beim Zahlmeister, diniert beim Major, verputzt Ofenschlupfer im Kasino, trinkt Rheinwein und guten Bohnenkaffee, lauscht Chopinkonzerten, nimmt Bäder, hält Predigten, legt Kränze nieder, reist nach Brügge, bummelt über den Brüsseler Boulevard.

Im Juni 1915 beginnt der Feuersturm bei Serre. Der Sommer 1916 wird zur Hölle an der Somme mit mehr als 1,2 Millionen Toten. Schwerste Marinegeschütze, Minen, Flach- und Steilfeuer überziehen die deutschen Stellungen mit endlosem Eisenhagel. Chlordämpfe und süßliche Phosgenschwaden lassen die Vögel abstürzen, versengen die Früchte, vergiften Mensch und Tier. Wälder verschwinden. Überall metertiefe Krater. Eine Marslandschaft mit Bergen von Toten. Breuninger bleibt Chronist auf Distanz:

6.6.15 6h aufgestanden, gelesen und gefrühstückt. Das Feuer auf unsere Stellung bei Serre verstärkt sich immer mehr. Es muss stärkstes Kaliber sein.

7.6.15 Um 5h Hurrarufen. Ich lasse noch Brot verteilen. Um 6h marschiert das Bataillon ab in die Schlucht. Abends werde ich mit meiner Bagage an den Ostausgang von Puisieux befohlen. Da niemand kommt, nehme ich telephonische Verbindung auf. Bescheid: Feldküchen können nicht vorfahren. Also das schöne gute Essen umsonst.

9.6.15 Am Weg zwischen Achiet und Puisieux liegen tote Menschen und tote Pferde. Niemand kümmert sich. Neue Regimenter sind angekommen. Ich gehe zum Bataillon. In fürchterlicher Enge zusammengedrängt, der Kommandeur und Adjutant ungeheuer abgespannt. Ich mache, dass ich bald wieder fortkomme.

Die Hölle an der Somme

13.6.15 Heute muss ich mich zwingen zu denken, dass Sonntag ist. Die ganze Situation hat so wenig sonntägliches an sich. Man sieht keinen Soldaten im Quartier liegen. Alles ist an der Front.

14.10.15 Fühlen wir eigentlich, dass wir in diesen Tagen Weltgeschichte erleben? Eigentlich nicht. Man steckt zu sehr drin und überblickt die Zusammenhänge nicht so. Europa ist allmählich ein wallender Lava-schlammsee. Wer soll diesen Stall einmal reinigen?

30.11.15 Ich wollte mich durch einen Laufgraben hindurchschlingen. Ich hatte ja meine Rohrstiefel an, aber schon beim ersten Schritt versank ich bis an die Knie. Bis man nur den Fuß wieder heraus hatte, hatte man die Glieder ausgerenkt. Draußen in der Stellung muß es bodenlos aussehen. Die Leute verlieren ihre Stiefel im Dreck. Sie laufen barfuß oder nehmen den lebensgefährlichen Weg oben herüber.

19.2.16 Man kann einen Floh nicht ersäufen. Ich kann den Beweis erbringen. Ehe ich mich zur Ruhe legte, machte ich eine Flohjagd. Das erlegte Wild legte ich ins Wasser, wo es auf den Grund zu liegen kam. Als ich morgens aufstand, legte ich den Totgeglaubten auf ein Papier. Als ich nach einer Viertelstunde das Vieh genauer besehen wollte, war es weg.

20.2.16 Mit der Größe der Erlebnisse wächst die Größe der Verantwortung. Gott legt während des Kriegs einen anderen Maßstab an uns an. Wie geht unsere Generation aus diesem Erleben hervor?

7.5.16 Morgens bin ich ausgeritten über den Pionierpark. Es ist sicher, im Krieg, da man weniger von der Kultur beleckt ist, bekommt man wieder ein viel schärferes Auge für die Schönheiten und kleinen Freuden der Natur. Gottlob gibt es noch eine Welt, die unberührt ist vom Wahnsinn der Völker.

28.6.16 Die Engländer haben die Nacht an verschiedenen Stellen angegriffen, viel Gas abgelassen, das sich auch hier noch bemerkbar gemacht hat.

30.6.16 Mittags kommen Verwundete von draußen. Die Engländer haben auf der ganzen Front angegriffen. Wie zum Hügel geschüttet liegen sie vor dem Drahtverhau, der erste große Ansturm ist abgeschlagen.

7.7.16 Draußen wird scheints heftig gekämpft. Wie geradezu tragisch für unser Bataillon. Es wird abends draußen noch einmal eingesetzt mit dem Versprechen, dass es bald wieder herauskommt.

29.8.16 Zum ersten Mal sehe ich, dass das Schloß eine ganz nette Fasanerie hat, ganz nette Vögel drin, Fasanen, Tauben, Papageien. Aber weit großartiger ist der Park, der voll ist von ausländischen Bäumen und Kräutern, ein Eldorado für den Pflanzenfreund.

12.9.16 Die Sonne trinkt sich durch den Nebeldunst zur vollen Klarheit. Es war wunderschön, allein durch die Stoppelfelder der aufgehenden Sonne entgegenzureiten. Man hat so seine eigenen Gedanken dabei, wenn der kühle Morgenwind einem entgegenfaucht. Einen befreienden Juchzger habe ich losgelassen.

14.9.16 Leutnant Staiger ist hereingekommen. Er ist in den Nerven kaputt.

12.2.17 Das Ereignis des Tages ist das Eintreffen der Vergeltungsfranzosen. Sie haben auf dem nackten Steinboden schlafen müssen ohne Decken und Stroh. Sie sollen bei Leibe spüren, was unsere Kameraden bei ihren Landsleuten schon lange erfahren müssen.

Trauriges Ende

9.3.17 Die Sommefront wird zurückverlegt. Alle Alleen, Wälder, Parks werden abgeholzt. Die Häuser werden eingerissen, die letzten Einwohner in das Etappengebiet abgeschoben. Es brennt an allen Ecken und Enden, das ganze Land wird systematisch verwüstet, kein Stein soll auf dem anderen bleiben, um dem Gegner größtmöglichen Schaden zuzufügen. Wir sind mit größter Bewusstheit Hunnen und Barbaren.

27.12.17 Die Pferdeernährungsfrage ist die traurigste im Krieg. Im innersten Herzen tut es einem weh, wenn sie mit hungrigen sehnsuchtsvollen Blicken einen anstarren, Streu und ihren eigenen Mist fressen.

30.1.18 Mittags steht ein Pionierunteroffizier vor dem Haus mit einem Buben. Er heißt Moritz und ist unseren Pionieren bei Terrest zugelaufen. Seine Mutter ist durch eine Granate umgekommen, sein Vater ist im Krieg, seine Verwandten geflüchtet, ein Schwesterchen liegt auf dem Kirchhof. Seine flämische Muttersprache hat er vergessen, er spricht nur noch Deutsch.

5.5.18 Eine unheimliche Fuhre haben wir heute von draußen hereingebracht. 18 tote Kameraden, die meisten waren übel zugerichtet.

30.8.18 Jetzt kämpft man schon zum 4. Mal auf diesem blutgetränkten Gebiet. Wie eine Ziehharmonika geht es hin und her. Gibt es einen besseren Beweis für den ganzen Wahnsinn dieses Weltkriegs?

6.9.18 Von Neuffer erfahren, dass das Gesuch meines Vaters um meine Zurückziehung hinter die Front genehmigt ist. So hat meine Kriegslaufbahn ein unerwartetes Ende gefunden. Es fällt mir schwer, das Bataillon zu verlassen, dem ich als einziger von allen Offizieren durch alle vier Jahre angehört habe.

Nach dem Krieg wurde Cornelius Breuninger Pfarrer in Pappelau auf der Schwäbischen Alb, wo er seine Frau kennenlernte. Es folgten Pfarrstellen in Mainhardt, Ludwigsburg, Erligheim. Breuninger wurde ein Nazigegner, predigte gegen die Judenverfolgung an – bis er Besuch von der Gestapo bekam, wie sich Charlotte Sigel erinnert, eines seiner fünf Kinder. „Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor er sich oft in Schwermut. Er war nicht mehr der Alte“, sagt sie. Drei Enkel erlebte er noch. Am 7. Mai 1956 starb er. Sein Grab ist in Korntal.