Als Fan ganz dicht dabei: Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek begleitet die Reid-Anderson-Festwoche beim Stuttgarter Ballett mit einer Kolumne.

Stuttgart - Nach dreimal Ballett in nicht mal 24 Stunden fühle ich mich ein bisschen so, als hätte ich etwas sehr Verbotenes, sehr hoch Dosiertes geraucht. Es ist ein ziemlich gutes Gefühl. Gibt es überhaupt noch was Anderes im Leben als Ballett?

 

Für all die TänzerInnen und ChoreographInnen, die sich am Sonntag Nachmittag im Kammertheater für die Premiere von „Skizzen“ versammelt haben, bestimmt nicht. „Wir haben alle unser Leben dem Tanz geopfert“, so hat es Robert Conn am Morgen beim Gespräch im Opernhaus formuliert. Das Opfer trägt Früchte, der Nachmittag wird zur grandiosen, umjubelten Leistungsschau. Fast hundert Choreografien sind in den letzten zwanzig Jahren unter der Intendanz Reid Andersons in Stuttgart entstanden, zwölf davon werden an diesem Nachmittag gezeigt, und endlich stehen auch die Stuttgarter TänzerInnen auf der Bühne und zeigen, was sie können.

Neben mir läuft Katarzyna Kozielska über den giftgrünen Boden des Kammertheaters. Die Halbsolistin des Stuttgarter Balletts ist einer der Shootingstars der Choreografie, mit ihrem Stück „Neurons“ hat sie erst vor wenigen Monaten in Stuttgart abgeräumt, am heutigen Nachmittag wird sie dem Solisten Adhonay Soares da Silva mit ihrem Stück „Firebreather“ alles abverlangen. Ich kann mir das nicht vorstellen, sage ich, wie man das macht, eine Choreographie zu entwickeln. Sie lacht. „Für mich ist Körpersprache die natürlichste Sprache, die es gibt“, meint sie. „Die Ideen dazu kommen ganz von alleine. Noch jedenfalls!“

Der Atem der Tänzer geht immer schneller

Für mich, die ich mit Worten arbeite, ist das ziemlich schwer vorstellbar, mit dem Körper eine Geschichte zu erzählen. Jeder Choreograf, jede Choreografin hat eine ganz eigene, charakteristische Ausdrucksweise. Manche erkennt man gleich, zum Beispiel die dynamische Bewegungssprache von Marco Goecke, einem der Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts. Friedemann Vogel bekommt an diesem Nachmittag für sein Solo aus Goeckes Orlando viele Bravos. Als er mit dem nackten Rücken zum Publikum steht, hat man fast das Gefühl, als könne dieser Ausnahmetänzer jeden Muskel gezielt einzeln bewegen. Das ist das Großartige am Kammertheater, man sieht so viel mehr als im Opernhaus, man ist so nah dran am Bühnengeschehen. Kein Orchestergraben schafft Distanz, man hört, wie der Atem der TänzerInnen immer schneller geht, man sieht die körperliche Anstrengung und den Schweiß, und unsere Superhelden rücken ein ganz klein wenig näher an uns Normalsterbliche heran.

In der Pause frage ich ein paar Besucherinnen, wie Ihnen die „Skizzen“ gefallen. „Sie sind doch die, die bei der Filmpremiere ihren Platz nicht gefunden hat, oder?“, entgegnet eine der Damen. Okay, auch so kann man Berühmtheit erlangen. Danach entbrennt eine leidenschaftliche Diskussion darüber, ob das Stuttgarter Ballettpublikum zu viel oder zu wenig klatscht, es wird Bedauern darüber ausgedrückt, dass Fußball viel beliebter ist als Ballett, und es wird moniert, dass die Ballettstars insgesamt viel zu wenig Anerkennung bekommen. Friedemann, findet eine der Damen, soll am besten die großen Handlungsballette tanzen, während Alicia in den modernen Stücken einfach fantastisch ist. So könnte man munter weiterreden, allein, die Pause ist zu Ende. Das ist auch so eine Besonderheit des Stuttgarter Publikums: Man kann ansprechen, wen man will, alle kennen sich aus. Hier geht man nicht einfach ins Ballett, um sich sehen oder berieseln zu lassen. Nein, hier ist jeder ein Experte! Man studiert eifrig das Programmheft, man fachsimpelt, man fiebert mit bei einem Rollendebüt, und man ist durchaus auch kritisch.

Frau Tsinguirides ist auch so ein Ballettwunder

Nach der Pause läuft Georgette Tsinguirides strahlend am Arm von Ivan Cavallari die Rampe hinauf ins Kammertheater. Sie ist ziemlich klein, er ist ziemlich groß. Ob sie weiß, wie viele Blicke ihr folgen? Wie viele Menschen sie bewundern, weil sie seit über siebzig Jahren nahezu täglich in den Ballettsaal kommt, um ihr Wissen weiterzugeben? Stuttgarter Ballettwunder, eines der vielen!

Der Nachmittag endet, wie könnte es anders sein, fulminant, mit einem Auszug aus Christian Spucks „Lulu“. Da könnte man dann fast wieder ein klein wenig wehmütig werden, dass dieser Choreograf, der Stuttgart all die fantastischen Handlungsballette beschert hat, als Ballettdirektor nach Zürich abgezwitschert ist (wo alle Geld haben und nicht darüber reden, wie er es am Morgen so schön formuliert hat). Hinter der Bühne treffe ich den Choreografen Kevin O’Day, der in den letzten Jahren sehr erfolgreich in Mannheim gearbeitet hat. Auch er hat heute abgeräumt. Anna Osadcenko und Jason Reilly haben seine Choreografie „Delta Inserts“ getanzt. Es ist eine Beziehungsgeschichte, die O’Day 1999 für das Stuttgarter Ballett kreiert hat, die Musik hat John King extra dafür geschrieben. Es war die erste Choreografie des Amerikaners für eine europäische Compagnie.

Und, ist er zufrieden? „Sehr. Wir haben ein bisschen geprobt, ein bisschen verändert. Das Stück ist ja schon 18 Jahre alt.“ Ich lerne also wieder etwas Neues: eine Choreografie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern wird der Zeit, den Tänzern angepasst? Er nickt. „Ich verändere eine Choreografie manchmal von einer Vorstellung zur nächsten.“ Ist es anders, in Europa zu arbeiten als in den USA? O ja, meint er. Jeder Ort hat seine eigenen Vibrations. Und, wie sind sie, die Stuttgarter Vibrations? Stuttgart ist ein ungemein kreativer Ort, fällt ihm spontan dazu ein. Na, das hören wir doch gerne. Unterdessen verabschieden sich im Hintergrund die zur Gesprächsrunde angereisten BallettdirektorInnen. See you in Paris. See you in Venice!

Bald bin ich übrigens wieder im Ballett. Wenn Sie mir was erzählen wollen, sprechen Sie mich einfach an. Ich bin ganz leicht zu erkennen. Ich bin die Frau, die immer ihren Platz sucht.

Der Kabatek-Blog beim Stuttgarter Ballett:

https://stuttgarterballett.wordpress.com/2016/07/19/kabatek-bloggt-stuttgart-vibrations-im-kammertheater/