Ein bei der Geburt gesundes Kind erlitt wenige Stunden später einen Sauerstoffmangel. Es kann nicht sprechen und laufen. Die Eltern fordern Schmerzensgeld.

Es ist der Albtraum aller jungen Eltern: Ein Kind kommt nach einer schweren Geburt gesund zur Welt. Der völlig erschöpften Mutter legt man das Neugeborene auf den Bauch. Irgendwann nickt die Frau ein. Als sie nur eine halbe Stunde später wieder aufwacht, ist ihr Kleines blau angelaufen. Die Ärzte schaffen es zwar, das Kind wiederzubeleben, aber wegen eines Sauerstoffmangels erleidet es einen irreparablen Hirnschaden.

 

Dies passierte einer Familie aus Böblingen vor sechs Jahren. Am Samstag hat ihre Tochter Lea (Name geändert) Geburtstag. Doch die dann Sechsjährige kann bis heute weder laufen noch sprechen. Bis vor Kurzem musste sie über eine Sonde ernährt werden. Jetzt schafft sie es immerhin pürierte Nahrung selbst zu schlucken.

Eltern fordern Schmerzensgeld

Ist das ein tragischer Unglücksfall, ein in letzter Sekunde verhinderter plötzlicher Kindstod ? Oder haben die Ärzte und Hebammen im Kreißsaal versagt und tragen die Schuld am Schicksal von Lea? Mit dieser Frage beschäftigt sich seit gestern die Ärztehaftkammer des Tübinger Landgerichts. Denn die Eltern von Lea haben im Namen ihrer Tochter Klage eingereicht. Sie machen das Personal der Frauenklinik für den Zustand ihres Kindes verantwortlich. Sie fordern von der Tübinger Universitätsklinik, wo Lea am 12. Mai 2006 um 15 Uhr zur Welt kam, 50 000 Euro Schadenersatz sowie 200 000 Euro Schmerzensgeld. Zudem wollen sie, dass die Klinik für die Therapie und Betreuung des Mädchens in den nächsten Jahren aufkommt. Die Klinik jedoch sieht kein Verschulden ihrer Mitarbeiter.

Zweieinhalb Liter Blut hatte Leas Mutter bei der Entbindung verloren. Sie war geschwächt, jedoch nicht so, dass sie auf die Intensivstation verlegt werden musste. Aber sie war auch nicht fit genug für eine Verlegung auf die Wöchnerinnenstation. Deshalb behielten die Ärzte die junge Mutter länger im Überwachungsraum des Kreißsaals. „Sehr engmaschig“ sei die Frau von ihr überwacht worden, sagte eine Hebamme. „Jede halbe Stunde habe ich nach der Frau gesehen Und dabei natürlich auch nach dem Kind geschaut. Dem ging es gut.“

Die junge Mutter indes berichtet davon, dass sie sehr erschöpft gewesen sei und von 22 Uhr an mehrfach den Wunsch geäußert habe zu schlafen. Deshalb bat sie die Hebamme, das Neugeborene in ein Kinderbett zu legen. Doch eine Umbettung des Kindes sei nicht möglich gewesen. Die Hebamme habe sie auf später vertröstet. „Wenn der Kinderarzt noch einmal nach der Kleinen geschaut hat, dann dürfen Sie auf die normale Station. Dort gibt es Kinderbetten“, habe ihre Betreuerin gesagt. Doch der Kinderarzt, der in dieser Nacht viel zu tun hatte, ließ auf sich warten. Erst gegen 4 Uhr morgens schaute er nach der Kleinen und erklärte: „Alles in Ordnung.“ Doch auch danach wurden Mutter und Kind nicht aus dem Kreißsaal verlegt, das Baby schlief weiter bei seiner Mutter. Was dann zwischen 5.30 Uhr und 6 Uhr passierte, ist nicht ganz klar. Vielleicht ist das Neugeborene unter die Decke der Mutter gerutscht. Vielleicht war es auch zu warm eingepackt. Fest steht nur, dass die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wurde, was zur Hirnschädigung führte.

Hebamme und Mutter liefern verschiedene Versionen

Die betreuende Hebamme jedoch lieferte eine andere Version. In einem Protokoll, das sie fünf Tage nach dem Unglückstag verfasste, vermerkte sie, dass sie der Mutter mehrfach angeboten habe, das Kind in ein eigenes Bett zu legen. Dies habe die Frau jedoch abgelehnt.

Sechs Jahre hat es gedauert, bis der Fall von einem Gericht aufgerollt wird. Zunächst hatte das Böblinger Paar die Schiedsstelle der Bezirksärztekammer angerufen. Diese ließ ein Gutachten durch den Ulmer Neonatologen Frank Pohlandt erstellen. Dieser ist der Ansicht, dass das Personal im Kreißsaal für die Behinderungen des Kindes verantwortlich ist. Man hätte der erschöpften Mutter das Kind abnehmen müssen. Mit diesem Gutachten reichten die Eltern 2009 die Klage ein. Das Tübinger Landgericht beauftragte daraufhin zwei weitere Gutachter mit der Prüfung des Falls. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Sauerstoffmangel nicht auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen sei. „Der Gesundheitszustand der Frau war nicht so, dass man das Kind auf keinen Fall hätte bei ihr lassen dürfen“, sagte der Gynäkologe. Allerdings hätte man der Mutter ein Angebot machen müssen, das Kleine vorübergehend in ein Bett zu legen. Ob dies geschehen sei, könne er nach der Aktenlage nicht beurteilen.

Er skizzierte die Gratwanderung der Ärzte und Hebammen in den Geburtsstationen. „Auf der einen Seite wollen wird die medizinisch optimale Versorgung für Mutter und Kind. Andererseits sollen wir alles tun, um die Mutter-Kind-Bindung, das Stillen und das Familiengefühl zu fördern. Dazu gehört vor allem, dass die Babys nach der Geburt bei den Müttern sind.“

Die Richter werden am 13. Juni ihre Entscheidung schriftlich mitteilen.