Das Stuttgarter Ballett nimmt John Neumeiers Interpretation von „Endstation Sehnsucht“ wieder in sein Repertoire auf.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Stuttgart - Ein Bett und ein gefallener Engel in Weiß: Alicia Amatriain presst die Arme schützend an sich, ihr Blick ist starr ins Leere gerichtet. Dann zerschneidet ein Schrei die wahnhafte Stille und setzt den Erinnerungsfluss in Gang – der Tanz beginnt und die ganze elende Geschichte dieser Blanche Du Bois entfaltet sich im Rückblick. So beginnt das Ballett „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier; es setzt da ein, wo Tennessee Williams Nachkriegs-Bühnenstück endet: in der Irrenanstalt, in der die Südstaaten-Schönheit Blanche, vom Leben und seiner Härte zerbrochen, strandet.

 

Bei der Stuttgarter Uraufführung im Dezember 1983 mutete Neumeier dem Publikum viel zu. Der Hamburger Ballettdirektor und Choreograf koppelte seine Version des William’schen Schauspiels mit seinem Ballett „Wendung“ und stellte die Stuttgarter damit auf eine dreieinhalbstündige Geduldsprobe. Eine dramaturgische Fehlentscheidung, die damals die Kritiker zu Recht monierten. Denn die Wiederaufnahme am Samstagabend im ausverkauften Schauspielhaus zeigt: Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ ist ein zweistündiges Literaturballett, dessen Wucht spielend einen Abend trägt, eine bildstarke Tanzerzählung, die den Stuttgarter Zuschauer auf eine fesselnde Reise durch zerfurchte Seelen-Landschaften und eine gespaltene Gesellschaft mitnimmt.

Die Neuauflage korrigiert ein weiteres Manko der damaligen Inszenierung: Gab es in der Urfassung durch eine Umbaupause einen ärgerlichen Bruch zwischen dem im Sanatorium angesiedelten Prolog und dem ersten Teil, der auf Blanches Familienanwesen Belle Reve spielt, geht nun der Kulissenwechsel nahtlos vonstatten: Ein mit einer Säulenfassade dekoriertes Stoff-Tableau ersetzt den Krankenzimmervorhang, ein Kronleuchter schwebt herab, und schon beschwört das zu tanzenden Paaren formierte Corps de ballet die schwül-steife Szenerie von Blanches Hochzeit herauf.

Neumeier erweist sich in „Endstation Sehnsucht“ als genialischer Bühnenkunsterschaffer: Denn nicht nur die äußerst vielschichtige Choreografie stammt von ihm, sondern auch Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept hat der gebürtige US-Amerikaner selber entworfen. Das Eisenbett dient ihm als zentrales, leitmotivisches Requisit. Vom Eingangsbild wandert es hinüber zum Herrensitz Belle Reve, wo Neumeier es an den rechten Bühnenrand stellt und mit Blanches zwielichtigen Männerbekanntschaften (Matteo Crockard-Villa, Roland Havlica, Robert Robinson) bestückt, die sie schon im Prolog heimgesucht haben. So fungiert das Möbelstück als Vorbote der unheilvollen Wendung, die ihr Leben nehmen wird: Nachdem sie schockiert die Homosexualität ihres Bräutigams Allan (David Moore) erkennt, der wirtschaftliche Niedergang der Plantage nicht mehr aufzuhalten ist und ihre Familienmitglieder wegsterben, versucht sie, ihre zerplatzten Träume mit sexuellen Eskapaden in einem Stundenhotel zu kompensieren.

Im zweiten Teil, nach der Pause, mutiert das Requisit zum Ehebett, in dem Blanches nach New Orleans geflüchtete Schwester Stella und ihr Mann Stanley Kowalski, ein ungehobeltes „Mannsbild polnischer Herkunft, sich ungezügelt-ausgelassen ihren Trieben hingeben. Nachdem auch die Liebelei mit Stanleys verdruckst-schüchternem Boxfreund Mitch (Damiano Pettenella) Blanche aus ihrer inneren und äußeren Verlorenheit nicht retten kann, ist das Bett der Ort, an dem der Konflikt mit Stanley eskaliert: Der Schwager vergewaltigt Blanche brutal – nach dieser körperlich-seelischen Zertrümmerung weist Stella ihre Schwester in die Irrenanstalt ein. Endstation.

Neumeier gelingen nicht nur psychologisch differenzierte tänzerische Charakterstudien, sondern er übersetzt auch Williams’ Kontrastierung zweier Welten sinnfällig in Tanz: hier die mit dem klassischen Formenkanon skizzierte von Künstlichkeit, Sublimierung und Dekadenz geprägte Großbürgerlichkeit, dort die modern-expressive Vitalität und Körperlichkeit des proletarischen New Orleans.

1983 waren es Marcia Haydée als Blanche und Richard Cragun als Stanley, die das Stuttgarter Publikum mit ihrer Bravourleistung euphorisierten – der heutigen Rollenbesetzung gelingt das nicht minder. Elisa Badenes als Stella überzeugt als sinnlich-impulsiver, von konformistischen Gängelungen befreiter Gegenpart zu Blanche; David Moore als Allan gibt sich in trauriger Nervosität dem Widerstreit seiner Neigungen hin. Der Tänzer Jason Reilly wiederum ist ein idealer Stanley: mit hüftkreisender Potenz setzt er sein Ethos, seine Ordnung durch. Allen voran aber Alicia Amatriain als puppenhaft zarte, ihre Glieder wie Flügel schlagende Blanche, der es versagt bleibt, in ihren Träumen und den überkommenen Traditionen Schutz zu finden. Unter Rührung empfängt sie den zu Recht tosenden Applaus.