Deutschland befindet sich mit seiner Abkehr von der Atomenergie in einer Vorreiterrolle. Siemens wittert ein Milliardengeschäft.  

Berlin - Das 244 Kilometer lange Unterseekabel, das die Ferieninsel Mallorca neuerdings per Hochspannungsgleichstromübertragung (HGÜ) mit dem spanischen Festland verbindet, soll nur ein Anfang sein. Konstrukteur Siemens will mit solchen Stromautobahnen durch ganz Europa das Rückgrat der Energiewende aufbauen. "Anders geht es wegen der erneuerbaren Energien nicht", stellt der Chef des Siemens-Energiesektors, Michael Süß, bei der Vorstellung des mallorquinischen Teilstücks der Stromautobahn klar. Mit der Aufnahme von immer mehr, aber zugleich stark schwankender Windenergie aus demNorden oder Solarstrom aus dem Süden sei das europäische Verbundnetz schon heute an seinen Grenzen angekommen, meint er.

 

Die Technik, um diese Flaschenhälse zu beseitigen, stehe zur Verfügung, betont Süß. Jetzt müssten die Leitungen rasch gebaut werden, sollen die bisherigen Zeitpläne der Politik zur Energiewende nicht platzen. "Wir sind bereits hinten dran", warnt Süß. Und billig werde es auch nicht. Um Ökostrom auch abtransportieren zu können, müssen bis 2020 allein zur Anbindung neuer Windkraftanlagen in Nord- und Ostsee rund 3,4 Milliarden Euro in neue Seekabel von gut 1500 Kilometer Länge investiert werden, hat die Deutsche Energie-Agentur berechnet. Weitere 3400 Kilometer Trassen für 22 bis 29 Milliarden Euro seien bis 2030 über Land nötig, um die Netze stabil zu halten.

Die ersten Stromautobahnen müssen in wenigen Jahren komplett sein

Europaweit potenziert sich der Aufwand laut europäischem Verband der Übertragungsnetzbetreiber Entso-E. Demnach sind in Europa 42.000 Kilometer neue Stromtrassen nötig, vorwiegend in Nord-Süd-Richtung, was geschätzt bis zu 750 Milliarden Euro kosten könnte. An klammen Staatshaushalten dürfe das nicht scheitern, warnt Süß. "Sonst schaffen wir die Energiewende nie", assistiert der für Stromübertragung zuständige Siemens-Bereichschef Udo Niehage. In Deutschland müssten die ersten neuen Stromautobahnen binnen drei bis vier Jahren stehen. Sonst werde es eng mit der Energiewende.

Der Konzern wittert das große Geschäft. Allein der Markt für die neuen Hochspannungsnetze, den Siemens mit der Schweizer ABB weltweit dominiert, soll sich binnen fünf Jahren auf mindestens sechs Milliarden Euro Auftragsvolumen verdoppeln. Siemens baut aber nicht nur Stromnetze, sondern auch andere Schlüsselkomponenten grüner Energie, wie Windkraft- und Solaranlagen oder Gaskraftwerke zur Grundlastversorgung.

Insgesamt hat der Konzern mit Umwelttechnik zuletzt 28 Milliarden Euro umgesetzt. Das ist etwa ein Drittel des Geschäfts, Tendenz steigend. Zum grünen Wachstum zählen auch Zukäufe. So sei die jüngste Abspaltung des Bereichs Solar & Hydro von der Sparte Windenergie ein Zeichen, dass Siemens in die Solarenergie investieren werde, sagte Süß. Während Windenergie schon an der Schwelle zur Wettbewerbsfähigkeit mit konventioneller Energieerzeugung stehe, sei bei Sonnenstrom aber noch nicht klar, welche Variante der Zukunftstechnologie das Rennen mache.

"Wir brauchen einen europäischen Masterplan"

Von 152 auf 227 Gigawatt müsse die installierte Kapazität aller Stromarten in Deutschland bis 2030 steigen, wolle man keine Stromausfälle riskieren, rechnet Siemens vor. Weltweit würden sich die Kapazitäten gar auf knapp 10.000 Gigawatt verdoppeln. Deutschland befindet sich mit seiner Abkehr von der Atomenergie rund um den Globus in einer Vorreiterrolle. Süß empfiehlt einen Systemwechsel in der Ökostromförderung mit Wettbewerb zwischen Windenergie und Sonnenstrom.

Zur Finanzierung der Milliardensummen für die neuen Netze müssten auch kapitalstarke Energieversorger gewonnen werden und deshalb schleunigst sichere Planungsgrundlagen erhalten, fordert der größte deutsche Industriekonzern. Kopfzerbrechen bereiten Siemens durchschnittliche Genehmigungszeiten für Stromtrassen vor allem in Deutschland von 14 Jahren. Die Politik müsse ein Akzeptanzmanagement aufbauen, um die Bevölkerung mit ins Boot zu holen. "Wir brauchen einen europäischen Masterplan", wirbt Niehage.

Europas Stromnetz muss erweitert werden

Leitungslänge Europas Verbundnetz ist über 300.000 Kilometer lang und für 828 Gigawatt Erzeugungskapazität ausgelegt. Wenn künftig verstärkt Windenergie tendenziell aus dem Norden und Solarstrom vorzugsweise aus Ländern wie Spanien oder Griechenland oder gar der Sahara eingespeist werden soll, müssen schnell neue Leitungen her.

Leitungstechnik Technisch dafür prädestiniert für die neuen Trassen ist ein Netz auf Basis von Hochspannungsgleichstrom (HGÜ). Nur so kann Strom über lange Strecken relativ verlustarm transportiert werden. Bei HGÜ-Technik gehen nach Siemens-Angaben zwischen 30 und 50 Prozent weniger Energie verloren als bei herkömmlicher Drehstromtechnik. Auf 800 Kilometer Länge sind es bei 800 Kilovolt Gleichstrom nur 2,6 Prozent Verlust. Zugleich könne bei gleicher Trassenbreite 30 bis 40 Prozent mehr Energie übertragen werden. Die HGÜ-Technik ist über Land erst ab 600 Kilometer Trassenlänge günstiger als Drehstromtechnik; bei Erd- und Seekabeln aber schon ab 80 Kilometer Länge.