Das Parlament der Schweiz könnte am kommenden Mittwoch entscheiden, den Atomausstieg der Eidgenossenschaft rückgängig zu machen.

Stuttgart - Jetzt hoffen sie auf den Nationalrat. Das Parlament der Schweiz könnte am kommenden Mittwoch entscheiden, den Atomausstieg der Eidgenossenschaft rückgängig zu machen und den Wunsch von Stromkonzernen und Wirtschaftslobby zu erfüllen. Danach aber sieht es nicht aus. 80 Prozent der Eidgenossen befürworten in Umfragen den Ausstieg.

 

Der Bundesrat in Bern hatte in der vergangenen Woche einen Aufsehen erregenden Grundsatzentschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie getroffen. Bis vor Kurzem hatte die Schweiz, die knapp 40 Prozent ihres Energiebedarfs aus der Kernkraft abdeckt, als äußerst atomfreundlich gegolten. Nach der Katastrophe von Fukushima gab es unter den 7,8 Millionen Eidgenossen ein radikales Umdenken. Vier von fünf Schweizern befürworten jetzt einen möglichst schnellen Ausstieg. Am Wochenende vor dem Beschluss protestierten 20.000 Menschen am Atomkraftwerk Beznau im Kanton Aargau gegen die Kernkraft - so viele wie seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 nicht mehr.

Rat empfiehlt Bau neuer Reaktoren nicht

Der Bundesrat mit sieben Ministern aus fünf Parteien war mit seiner Entscheidung selbst dem deutschen Atomausstieg zuvorgekommen. Die Kosten für den Umstieg auf eine atomfreie Stromversorgung bezifferte das Gremium auf zwei bis vier Milliarden Franken im Jahr. Ein Gesetz, das die Modalitäten des Atomausstiegs regelt, soll im kommenden Jahr dem Nationalrat vorgelegt werden.

Von einem "historischen Tag" sprach Energieministerin Doris Leuthard (CVP), als sie am Mittwoch vergangener Woche den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie erläuterte. Unter der Wirkung der Katastrophe von Fukushima hatte sich der Rat entschlossen hatte, den Bau neuer Reaktoren nicht zu empfehlen. "Wir haben einen GAU erlebt, und das Restrisiko hat sich manifestiert", erläuterte Leuthard den Sinneswandel. Bemerkenswert ist, dass die "Kernschmelze im Bundesrat" ("Blick") mit Hilfe der Stimmen von vier Ministerinnen zustande kam, die gegen ihre drei Kollegen votierten. Neben Leuthard stimmten Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey und Justizministerin Simonetta Sommaruga (beide SP) sowie überraschend auch die erzbürgerliche Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf für den Beschluss.

Termin für den Ausstieg steht noch nicht fest

Einen letztgültigen Termin für einen Ausstieg nannte der Bundesrat nicht. Die übliche Laufzeit eines Atomkraftwerkes (AKW) betrage laut Leuthard jedoch in der Regel 50 Jahre. Damit könnten die beiden ältesten Meiler Beznau I, Beznau II und Mühleberg bereits 2019 beziehungsweise 2022, die AKWs in Gösgen und Leibstadt in den Jahren 2029 und 2034 abgeschaltet werden. Da Leuthard eine verlängerte Laufzeit von 60 Jahren aber für "denkbar" hielt, könnte sich diese Frist entsprechend verlängern. Die Neubaupläne für drei Reaktoren in Beznau, Gösgen und Däniken sollen indes nicht weiterverfolgt werden.

Gerade der älteste Reaktor Mühleberg im Kanton Bern gilt als problematisch. Es handelt sich bei ihm um denselben Typus wie die Meiler in Fukushima. Bei einem Stresstest bemängelte das Eigenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) die fehlende Alternative zur Kühlwasserentnahme aus der Aare. Im Fall von Beznau wurde die Erdbebensicherheit von Nebengebäuden für verbesserungsbedürftig erachtet. Auch die Kraftwerke in Gösgen und Leibstadt wiesen Mängel auf.

Ausstieg wird wahrscheinlich vom Volk entschieden

Die Vertreter der drei großen Stromkonzerne Axpo, Atel und BKW aber verweisen auf die Sicherheit ihrer Anlagen und reagierten in Stellungnahmen wenig erfreut. Der Kraftwerksleiter von Leibstadt, Andreas Pfeiffer, sagte dem ZDF, er glaube, dass es "auf mittlere Sicht ohne Kernenergie nicht gehen wird." Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse nannte den Beschluss "unseriös, widersprüchlich und unverantwortlich". Sie alle setzen auf einen Ausstieg aus dem Ausstieg und hoffen dabei weniger auf das Parlament, das in aller Regel der Empfehlung des Bundesrats folgt, als mehr auf den Ständerat, der eine Woche später tagt. Die Versammlung der Schweizer Kantone gilt als streng konservativ und soll den Entscheid kippen.

Die Befürworter der Kernkraft glauben dafür gute Argumente zu haben und verweisen auf eine Studie des Basler Wirtschaftsforschungsinstituts Prognos für das eidgenössische Bundesamt für Energie (BFE), das im Fall eines kompletten Atomausstiegs eine Verdreifachung des Heizölpreises und eine Erhöhung des Benzinpreises auf vier Franken errechnet hat. Bezweifelt wird auch, dass es die Schweizer schaffen, ein Viertel des Stromverbrauchs einzusparen und auf Erdgas zu setzen. Dafür müssten fünf bis elf große Gaskraftwerken her. Gegen den Ausbau Wasserkraft, die 56 Prozent am Strommix ausmacht, hat sich bereits der Naturschutzverband Pro Natura ausgesprochen. Gerade die regenerativen Energien aus Sonne, Wind, Erdwärme und Biomasse gelten als ausbaufähig. Ihr Anteil an der erzeugten Energie liegt unter einem Prozent. Beim Solarstrom existieren gerade einmal 8000 Anlagen. Ob die Schweiz den Atomausstieg tatsächlich schafft, dürfte am Ende, wie so oft, vom Volk entschieden werden. 50.000 Unterschriften sind für ein Referendum notwendig.

Atomkraft stellt fast die Hälfte der Energie in der Schweiz

Energie: In der Schweiz werden 39 Prozent des Stroms durch Kernenergie erzeugt, 56 Prozent mit Wasserkraftwerken und knapp fünf Prozent in konventionell-thermischen Kraftwerken und auf der Basis anderer regenerativer Energien (unter 1 Prozent).

Kernkraft: Die drei Energiekonzerne Axpo, Atel und BKW (Berner Kraftwerke AG) betreiben fünf Reaktoren. Mit Beznau I und II, Gösgen und Leibstadt liegen vier unmittelbar an der deutschen Grenze. Nur Mühleberg (Kanton Bern) befindet sich im Landesinnern.

Ausbau: Axpo und BKW wollen die alten Meiler Beznau I und II und Mühleberg bis 2020 ersetzen. Atel plant einen neuen Reaktor in Däniken zwischen Olten und Aarau. Nach dem Ausstiegsbeschluss haben die Konzerne die Pläne vorerst auf Eis gelegt.