In Ellwangen ist die Pest wieder präsent. Der Erreger wurde jetzt in Gerippen aus 500 Jahre alten Massengräbern nachgewiesen. Rückblick in eine Zeit, in der die Menschen über unsere aktuelle Ebola-Angst nur müde gelächelt hätten.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Die Beute des Schwarzen Todes war am Marktplatz verborgen. Die Gebeine lagen keinen halben Meter unter der Asphaltdecke, eingerahmt von stolzen Stiftsherrenhäusern und der Vitus-Basilika, wo schon bald junge Kastanien, Wasserfontänen und Spielelemente neue Freude in der Altstadt verbreiten sollen. Nun, da Ellwangen von Grund auf verschönert wird, ist die Geschichte der Unglücklichen an den Tag gekommen, fünf Jahrhunderte nach der großen Fäule.

 

Der Boden offenbarte, dass die romanische Magdalenenkapelle, von deren Existenz man bereits wusste, auf den Resten eines noch viel älteren, bisher unbekannten Kirchenbaus stand. Noch erstaunlicher aber waren die Zeugnisse eines Friedhofs, auf dem sich über die Jahrhunderte Überreste von 1500 Toten angesammelt hatten, sieben Tonnen Knochen. Alle sehr gut erhalten. Das macht der gute, basische Ostalbboden.

Zu dem alten Totenacker gehörten sieben Massengräber mit insgesamt 150 Skeletten, viele von Frauen und Kindern. Das war der rätselhafteste Fund. Nach einer Analyse konnte man die Gerippe ins 16. Jahrhundert datieren. Sie waren sorgsam aufeinandergestapelt worden, die Menschen mussten in kurzer Zeit hintereinander gestorben sein. Nichts deutet auf eine Gewalteinwirkung hin. Was war passiert? Die Stadtchronik ergab keine Spur. Die Kirchenbücher brachten schon mehr Aufschluss, dort ist um das Jahr 1530 von einer grassierenden Seuche die Rede. Die Toten machen die Geschichte Ellwangens wieder lebendig.

„Es war die Pest“, sagt Johannes Krause, Professor für Paläogenetik an der Universität Tübingen und weltweit führend in der Entschlüsselung historischer Krankheitserreger. Vor drei Jahren gelang ihm, was noch keinem gelang: Er rekonstruierte das Genom des Schwarzen Todes aus dem Jahr 1348. Das Gleiche schaffte er auch bei anderen alten Erregern: der irischen Kartoffelseuche von 1845, der Tuberkulose aus vorkolumbianischer Zeit, der Lepra aus dem mittelalterlichen Dänemark. In Ellwangen ist er jetzt wieder fündig geworden. Hier wütete also Yersinia pestis.

Die Pest als Biowaffe

Der Pesterreger wird von der Weltgesundheitsorganisation zum „dreckigen Dutzend“ gezählt, zu den zwölf gefährlichsten biologischen Kampfstoffen. Sein Einsatz als Biowaffe war wohl auch der Ausgangspunkt dafür, dass der Schwarze Tod 1347 über Europa hereinbrach wie eine Furie. Als Tataren die genuesische Handelskolonie Caffa auf der Halbinsel Krim belagerten, schleuderten sie, so ist es überliefert, mit Katapulten Pestleichen in die Stadt. Ob sie wussten, was sie damit anrichteten? Die Pestilenz breitete sich bald über die Handelswege in ganz Europa aus. Nach und nach fielen die großen Städte: Konstantinopel, das Königreich der Ratten, Genua, Marseille, London. Zwischen 1347 und 1352 gab es, genaue Angaben sind schwierig, zwischen 20 und 40 Millionen Pesttote, ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Mehr als 400 Jahre ließ die Geißel Pestilenz die Menschen nicht los und tauchte immer wieder in Wellen auf. Im 16. Jahrhundert muss sie auch in Ellwangen haltgemacht haben.

Archäologen des Landesamts für Denkmalpflege haben die Skelette freigepinselt, in Pappkartons verpackt und zum Institut nach Tübingen gefahren. Dort liegen sie jetzt in Einzelteile zerlegt wie Lego-Bausätze. Aufschriften wie 549 Q bezeichnen, was früher ein Mensch war. Johannes Krause holt einen Ellwanger Schädel aus einem Plastikbeutel, Handschuhe braucht er nicht, die Erreger sind so tot wie die Menschen. „Wahrscheinlich eine Frau, der Unterkiefer muss da auch irgendwo sein.“ Er findet das passende Stück, es weist drei Zahnlücken auf. Zwei Zähne fehlten schon im Grab, ein Zahn wurde für die Gen-Analyse gezogen. „Manchmal“, sagt der 34-Jährige, „frage ich mich: Was war das für ein Mensch, dessen Überreste ich in der Hand halte? Wie lebte er? Was mag er durchgemacht haben kurz vor dem Tod?“

In der Novellensammlung „Decamerone“, die Mitte des 14. Jahrhunderts in Florenz entstand, ist das Leiden eindrücklich beschrieben: „Etwa zu Frühlingsbeginn zeitigte die Seuche erstmals ihre schreckliche Wirkung. Sie begann hier nicht wie im Osten mit Nasenbluten. Es bildeten sich Schwellungen in der Leistengegend oder unter den Achseln, von denen einige die Größe eines Apfels oder Eies erreichten. Diese Pestbeulen breiteten sich auf dem ganzen Körper aus. Kurz darauf begannen sich die Zeichen der Krankheit in schwarze und blaue Flecken umzuwandeln, die auf den Armen, an den Schenkeln und an jeder Stelle des Körpers auftraten, beim einen groß und spärlich, beim andern klein und dicht gedrängt. Der Tod kam innerhalb von drei Tagen. Die Luft war vom Gestank der Leichen, der Krankheiten und Arzneien dumpf und stickig geworden. Der eine trug Blumen, der andere wohlriechende Kräuter oder unterschiedliche Spezereien in der Hand, um sie oft vor die Nase zu halten, denn man dachte es sei das Beste, das Gehirn mit derartigen Wohlgerüchen zu erquicken.“

Der Zahn ist eine Zeitkapsel

Der ätzende Geruch im Keller des Tübinger Instituts kommt vom Imprägniermittel, mit dem die Knochen behandelt sind. Johannes Krause zeigt einen Zahn aus Ellwangen: „Zähne sind für uns wie Zeitkapseln, der Schmelz schützt ihren Inhalt.“ Er sägt die Wurzel auf, entnimmt eingetrocknetes Blut und Nervengewebe, das im Idealfall am Zahnbein haftet, und pulverisiert das Ganze. Aus diesem Zahnstaub extrahiert er eine Gensuppe aus verschiedensten Zutaten: Tier-, Pflanzen-, Human-, Bakterien-, Pilz- und mit viel Glück auch Pest-DNA. Die will er angeln.

Dazu halbiert Krause den DNA-Doppelstrang moderner Pestbakterien, wie es sie heute etwa in China oder Madagaskar gibt, klebt eine Hälfte als Köder auf einen Glasträger und taucht es in die DNA-Suppe von der Ostalb. Befinden sich darauf passende Stücke alter Pest-DNA, heften sie sich an den Köder und werden danach aus der Suppe gefischt. „Aus diesen Erbgut-Teilchen können wir wie in einem Puzzle das alte Genom rekonstruieren.“ Johannes Krause findet keine Fossilien von Krankheitserregern, er fertigt molekulare Fossilien am Computer, virtuelle Pest-Bakterien. Bei 20 Marktplatzgerippen gelang bisher der Nachweis. Diese Individuen hatte der große Schnitter Tod damals ausgewählt und abberufen.

„Es gab Menschen, die hofften, durch maßvolle Lebensweise ihre Widerstandskraft gegen die Seuche stärken zu können“, ist im „Decamerone“ zu lesen. „Andere vertraten die gegenteilige Auffassung und versicherten, die sicherste Medizin sei reichlich zu trinken, zu genießen, singend und scherzend umherzuziehen, jeglicher Begierde zu genügen und über das, was kommen werde, zu lachen und zu spotten. Sie gingen bald in diese, bald in jene Schenke, viel lieber aber in fremde Häuser, wenn sie dort nur Dinge bemerkten, die ihnen zur Lust gelegen kamen. Sie konnten dies leicht tun, weil, als ob man sein Leben aufgegeben hätte, sich keiner mehr um sich und seinen Besitz kümmerte. Es gab genug, die ohne Augenzeugen aus diesem Leben schieden und auf offener Straße umkamen. Bei vielen, die in ihren Häusern verstorben waren, erfuhren die Nachbarn erst durch den Gestank der verwesten Leichen, dass sie tot waren. Es war so weit gekommen, dass man sich um Menschen, die starben, nicht anders kümmerte, als man es bei den Ziegen tut. Sie wurden schichtweise, wie im Schiffsraum die Waren, übereinandergestapelt und mit wenig Erde bedeckt, bis der Graben zum Rand voll war. Es halfen weder der Rat eines Arztes noch Medizin. Sehr wenige wurden geheilt.“

Waren die Überlebenden resistent?

Was hatten die Überlebenden, was die Toten nicht hatten? Hatten sie im Kampf gegen das Bakterium eine Resistenz ausgebildet? Oder trugen sie Gene in sich, die ihnen eine natürliche Resistenz verliehen? Johannes Krause will der Sache auf den Grund gehen. Unterscheidet sich das Erbgut der Pesttoten an irgendeiner charakteristischen Stelle von dem der Überlebenden? Konnten sich diese Antipest-Gene über Generationen und Jahrhunderte erhalten? Um dies herauszufinden, hat er jetzt die Ellwanger zu einer Speichelprobe gebeten, wie bei großen Kriminalfällen. Eingeladen waren Leute aus Familien, die mindestens seit drei Generationen in der Stadt oder im Umkreis von 400 Kilometern leben. Die Reihenuntersuchung war anonym, sonst hätte der Ethikrat zur Aktion gehört werden müssen. 60 Leute machten mit – wohl noch zu wenig. Die Suche geht weiter. „Es ist eine riesige logistische Aufgabe, wir stehen erst ganz am Anfang“, sagt Johannes Krause.

Lange galt es als umstritten, ob der Pesterreger überhaupt für den Schwarzen Tod im Mittelalter verantwortlich war. Erst Johannes Krause hat den Beweis dafür erbracht, er fand sozusagen die Mutter der Pest. Ein Mikrometer großes Bakterium, das die ganze Welt veränderte. „Mit der Pestepidemie anno 1348 beginnt die Neuzeit“, sagt Robert Jütte, Leiter des Instituts für Medizingeschichte der Bosch-Stiftung in Stuttgart. „Weil eine Seuche erstmals in so einer Dimension auftritt, dass sie die Menschen traumatisiert und eine Gesellschaft darauf reagiert.“ Zum einen sucht man das Heil im Übernatürlichen: Büßer prozessieren durch die Straßen, schlagen sich die Rücken blutig, man betet, was das Zeug hält, glaubt an schlechte Konstellationen von Mars, Jupiter und Saturn.

Doch die Seuche fördert auch die Idee eines öffentlichen Gesundheitswesens und professionellen Ärztestands. Freilich, die Ärzte tragen mit ihren Aderlässen, Brechmitteln, Einläufen und dem Bestreben, erst mal alles abfließen zu lassen, nicht immer zur Gesundung bei. Es ist auch nicht gut, Blut und Eiter aus Pestbeulen zu drücken.

Das Gleichgewicht der Säfte

Und doch verhindert die herrschende Miasmenlehre, die Krankheiten auf giftige Ausdünstungen zurückführt, dass sich die Pest noch bis in die letzten Winkel Europas ausbreitet. Seuchentote werden außerhalb der Stadt verscharrt, ihr Hab und Gut wird verbrannt, Städte isolieren Fremde in Quarantänestationen, Kranke in Pesthäusern. Auch die Schnabeldoktoren liegen mit ihren langnasigen und kräutergefüllten Masken nicht ganz falsch. An die Bekämpfung des Rattenflohs, dem großen Übeltäter, denkt leider keiner.

Und zur Lehre vom Gleichgewicht der Säfte gehört auch das Gleichgewicht der Seele. Dass man im Übermaß dem Sinnesgenuss und Müßiggang frönt, liegt nicht unbedingt nur daran, dass den Leuten eh schon alles egal ist. Es ist ein Hoffnungszeichen: Man will der Angst keine Macht über sich geben. Man will die Freude wieder herbeileben, um nicht noch weiter aus der Balance zu geraten. „Alle sollten dazu beitragen, die Furcht und damit die Krankheit zurückzudrängen. Diese Strategie hat der moderne Mensch verlernt, wie wir an der aktuellen Ebola-Panik sehen können“, sagt Robert Jütte. Ist ein Erreger noch nicht beherrschbar, kriecht die Angst wieder in die Köpfe zurück – „und das ist angesichts der tatsächlichen Gefahr durch Ebola für Europa lächerlich“.

Unsere Welt wäre anders, wäre sie im 14. Jahrhundert und in den Wellen danach nicht in Unordnung gestürzt, wäre nicht alles in Frage und auf den Kopf gestellt worden. Auch das können uns die Pesttoten aus Ellwangen bewusst machen. „Die Zeiten der Pest haben etwas Neues geschaffen, nur denken wir heute nicht mehr daran“, sagt Robert Jütte. „Und wenn uns diese Heimsuchung etwas lehren sollte, dann ist es, die Menschen zu bewundern: für ihren Zusammenhalt in schlechten Zeiten, für Werke wie den ‚Decamerone’ mit seinen tröstlichen Geschichten, für die Votivkirchen, die herrlichen Gemälde aus dem Barock und der Renaissance, die ja auch unter dem Eindruck der Seuche geschaffen wurden.“ Für all das Schöne und Gute, das aus dem Chaos erwuchs wie eine leuchtende Blume aus dem Morast.