Eine neue Lehrmethode soll Kindern mit Leseschwäche so gut helfen, dass sie die eingestellten Leseklassen voll ersetzt. Eine Lehrerin ist aus Erfahrung skeptisch – es fehle die Zeit, sich intensiv um schwächere Schüler zu kümmern.

Korntal-Münchingen - Für einen Schüler der zweiten Klasse liest Malte Runk langsam. Es dauert, bis Max und Leon aus dem Buch über eine Bolzplatzbande mit dem Fußballspielen beginnen können: Malte stolpert beim Vorlesen über den Buchstaben X im Namen Max, dann ist das Wort Bolzplatz zu lang für ihn. „Schau genau hin, was dir das Silbenkärtchen zeigt und setz’ dann die Worte zusammen“, ermuntert Brigitte Rüdt-Ebinger den Siebenjährigen. Sie ist Maltes Klassenlehrerin an der Münchinger Flattichschule. Der Grundschüler wiederholt konzentriert den Satz. Sein Blick ist ernst. Als es im zweiten Anlauf besser gelingt, entspannt er sich. „Es klappt doch“, lobt Rüdt-Ebinger.

 

Erfolgserlebnisse in der Leseklasse haben Schüler gestärkt

Dass der Zweitklässler inzwischen überhaupt lesen kann, verdankt er den drei Monaten, die er vor den Sommerferien die Leseklasse in der Ditzinger Konrad-Kocher-Schule besucht hat. Davon zumindest ist Brigitte Rüdt-Ebinger überzeugt. Malte sei nicht dumm, sagt seine Lehrerin, habe aber eine starke Lese-Schreibschwäche. Im Frühjahr sei sein Frust darüber, dass seine Mitschüler lesen lernten, nur er die Zeichen in der Lesefibel immer noch nicht zu Worten verbinden konnte, unermesslich geworden. „Er hatte eine totale Blockade, wollte sich gar nicht mehr mit dem Lesen auseinandersetzen.“ In der Leseklasse hingehen habe Malte zwei Erfolgserlebnisse gehabt: Er lernte, dass auch andere Kinder ähnliche Probleme wie er hatten. Zum anderen kannte er bereits die Laut-Gebärdensprache und konnte sie seinen Mitschülern beibringen. „Die hatte er bei mir gelernt“, sagt Rüdt-Ebinger. Jetzt kann Malte lesen. Nicht sehr gut, „aber er hat den Anschluss an die Klasse geschafft“.

Maltes Klassenlehrerin ist an der Flattichschule die Koordinatorin für Lese-Rechtschreib-Schwäche. Brigitte Rüdt-Ebinger besucht Fortbildungen, kennt neue Methoden, überblickt das Lernmaterial. Sie stellt für jeden einen individuellen Leseplan zusammen. Maltes Klasse, die 2b, ist klein, sie besteht aus nur 21 Schülern. Malte ist der einzige Schüler, der so starke Schwierigkeiten hatte. Was aber passiert, wenn sie sich in einer Klasse um drei Schüler mit gravierenden Leseproblemen kümmern muss? Rüdt-Ebinger überlegt. „Es gibt ja keine Leseklassen mehr“, sagt sie.

Die Lehrerin bedauert dies sehr. Noch jeder Schüler, der im regulären Unterricht trotz ihrer Sonderförderung nicht mitkam, habe in der Leseklasse lesen gelernt. „Ich traue mir schon zu, ein Kind, das sich mit dem Lesen schwertut, zu fördern.“ Aber sie komme an ihre Grenzen, wenn sich ein Kind verweigert. Denn sie müsse sich auch um die anderen Schüler kümmern. „Auch sie haben ein Recht auf Lehrer.“

Neues Konzept soll Leseklassen ersetzen

Über die Entscheidung, die Leseklassen einzustellen, die das Staatliche Schulamt Ludwigsburg im Sommer getroffen hat, will Werner Schoner, der Rektor der Flattichschule, nicht befinden. Auch er bedaure das Aus des Förderunterrichts. Aber „es war ein Extra. Andere Schulen in anderen Regionen hatten das nie. Und dafür haben wir jetzt mehr Vertretungslehrer. Die sind auch wichtig.“ Er sei „gespannt“, wie es werde, wenn die neue Methode zum Tragen kommt, die statt auf Einzelförderung auf Prävention vom ersten Tag an setzt.

Brigitte Rüdt-Ebinger wird im Dezember die vom Schulamt angekündigte entsprechende Fortbildung mit der Würzburger Bildungsforscherin Petra Küspert besuchen und dort die neue Methode erlernen. Die Grundschullehrerin sagt, sie sei offen für neue Ideen. „Ich lerne auch mit 61 Jahren gerne Neues.“ Sie sagt aber auch: „Ob das Konzept die Leseklasse ersetzt kann, müssen wir schauen.“

Schulamt setzt auf Prävention

Seit diesem Schuljahr sind die Leseklassen im Kreis Ludwigsburg Geschichte. Anstatt Schüler mit Lese- oder Schreibproblemen für drei Monate in eine Förderklasse zu schicken, setzt das Staatliche Schulamt Ludwigsburg nun stärker auf Prävention. „Das ist neu“, sagt die Leiterin Gabriele Traub. „Die Schüler werden rechtzeitig, vom ersten Schultag an, in den Blick genommen, damit sich die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) erst gar nicht ausbildet.“ Im Dezember sollen die ersten Lehrer von der Würzburger Bildungsforscherin Petra Küspert auf einer eintägigen Fortbildung dafür geschult werden. Küspert vertritt die Auffassung, dass eine tägliche Lernzeit von 20 bis 30 Minuten ausreiche. „In dieser Zeit können sich Schüler optimal konzentrieren und Neues aufnehmen.“

Hat das Leseklassenkonzept, das täglich einen vier- bis fünfstündigen Unterricht mit dem Schwerpunkt Lesen und Schreiben vorsah, die Schüler somit überfordert? Das will Traub nicht bewerten. Sie ist überzeugt, dass mit der neuen, präventiv angelegten Lehrmethode viele Kinder erst gar keine Lese-Rechtschreib-Schwäche entwickeln werden. Zwar gebe es bereits jetzt an jeder Schule eine Koordinator, einen LRS-Lehrer. Doch nun sollen mehr Lehrer für die Leseförderung und Diagnostik geschult werden. „Das war bislang noch nicht flächendeckend möglich“, sagt Traub. Zudem werde es nicht bei dem einen Schulungsnachmittag bleiben. Bis Sommer seien mindestens drei weitere Fortbildungen mit Petra Küspert geplant.

Die 28 Zweitklässler, die noch auf der Warteliste für eine Leseklasse standen, bekommen nun eine tägliche Förderung von 20 bis 30 Minuten. Gegeben wird dieser Zusatzunterricht an zehn Schulen im Kreis, unter anderem an der Konrad-Kocher-Schule in Ditzingen. Dafür gibt es kreisweit ein Deputat von 36 Lehrerstunden. Die unterrichtenden Lehrer sind nach Aussagen von Gabriele Traub keine speziell geschulten LRS-Lehrer. Diese Intensivförderung werde fortgesetzt, sagt Traub. Denn „es wird weiter Kinder geben, die eine intensivere Förderung benötigen“. Die Stunden dafür würden den Schulen künftig nach Bedarf flexibel zugewiesen.