Es ist sinnvoll, immer wieder auszumisten, Überflüssiges wegzuwerfen. Wahrscheinlich gehört es zum Erwachsensein, sich von Unnötigem trennen zu können. Doch wer legt fest, was entbehrlich ist und was nicht? Ein Plädoyer dafür, den Dingen eine Chance zu geben.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Achtung! Ein solches Spektakel ist nichts für Zartbesaitete. Eine Wohnungsauflösung ist grausam. Sehen Sie sich diesen brachialen Akt nicht an. Schauen Sie nicht zu, wenn die Männer vom Räumtrupp kommen und mit grob zupackenden Arbeiterhänden über Jahrzehnte sorgsam Gehütetes mit dem erbarmungslosen Griff der Fremden in große Plastiktüten stopfen. Übergeben Sie stattdessen besser nur den Wohnungsschlüssel, ziehen Sie die Tür hinter sich ins Schloss, drehen Sie sich nicht mehr um und denken Sie einfach an schönere Dinge. An einen Tag am Meer vielleicht. Zahlen Sie am Ende einfach nur für das, was in der Abrechnung schnöde als der Posten „Wohnungsauflösung samt Müllentsorgung“ auftauchen wird, für Sie aber subjektiv wie die Abrissbirne für einen Teil ihres Lebens ist.

 

Muten Sie sich das Spektakel nicht zu, wenn Sie empfänglich sind für die stumme Sprache alter Vasen, verschrammter Langspielplatten oder des Indianer-Forts aus Kindertagen und wenn sie glauben, es sei kein Zufall, dass wir das Sammelsurium unserer Besitztümer mit dem vielsagenden Wort Habseligkeiten belegt haben. Immerhin haben das Goethe-Institut und der deutsche Sprachrat das Wort 2004 zum schönsten deutschen Wort gekürt. Vielleicht sind die Dinge ja auch wirklich mehr als nur unbeseelte Materie?

Immer wieder präsentieren Experten Ausmisttechniken

Wenn Sie jetzt schon die Augen rollen und Bekenntnisse wie die obigen für eine überflüssige oder schrullige Anwandlung halten, wenn die Dinge für Sie immer stumm wie ein Fisch bleiben, lassen Sie sich bitte nicht beirren. Sie sind auf einem guten Weg, ihr Leben perfekt entschlacken zu können. Wahrscheinlich befinden Sie sich damit auch auf der vernünftigeren Seite im Disput zwischen Wegschmeißern und Bewahrern. Denn Aufräumen- und Ausmistenkönnen gelten als Ausdruck einer reifen Persönlichkeit, die Wichtiges von Unwichtigem trennen kann. Festhalten und Aufbewahren hingegen erscheinen als verdächtig – und nicht erwachsen. Man benötigt obendrein viel Stauraum.

So denkt wahrscheinlich das Gros derer, die auf Aufräumratgeber und Simplify-Your-Life-Seminare vertrauen. Alle paar Jahre predigt eine nachwachsende Generation von Experten neue Ausmisttechniken. In Architektur- und Designzeitschriften sind Dinge ohnehin nur Dekoware und nicht Spuren gelebten Lebens. In Zeiten, in denen weniger mehr ist, Lessness als Inbegriff der Tugend gilt, braucht man fürs Aufbewahren eine gute Entschuldigung.

Und deshalb beginnt leider auch kein Entrümpelungsratgeber mit den warnenden Sätzen dieses Textes. Die meisten Menschen glauben, man brauche nur die richtige Anleitung oder den passenden Dienstleister, dann könnten sie sich der Dinge, die aus vergangenen Jahren ihres Lebens der Zukunft im Weg liegen, ohne viel Aufhebens entledigen. Das mag so sein. Es gibt Menschen, für die ist ein Nachlass ein Sammelsurium wertloser Dinge, die erst durch den Menschen in ihrem Zentrum eine Bedeutung bekommen. Ohne ihn sind sie nichts und entbehrlich, sind allenfalls eine interessante Fallstudie menschlichen Alltagslebens für empirische Kulturwissenschaftler. Wenn aber nicht, bekommen sie den Aufkleber „Kann weg“. Doch sagen nicht auch Tauschbörsen, die sich gegen gedankenlosen Konsum wenden, den Dingen wohne ein tieferer Sinn inne?

Dinge haben einen Mitteilungsdrang

Alles hat seine Zeit – auch beim Ausmisten. Menschen entrümpeln ihre Wohnung und damit auch ihr Leben vor allem in Umbruchsituationen. Ein Umzug ist dabei noch die harmloseste Variante. Meistens geschieht es nach dem Tod eines nahen Angehörigen. Viele aus der Babyboomergeneration stehen in diesen Jahren nach dem Tod der Eltern vor vollen Kellern, Kleider- und Geschirrschränken – und ihren Kindheitserinnerungen. Das zeigt, wie komplex das Problem des Wegwerfens oder Bewahrens eigentlich ist. Und immer drängt dabei die Zeit, weil das Haus oder die Wohnung schnell leer sein soll. 10 000 Gegenstände soll jeder Bundesbürger im Durchschnitt besitzen. Es weg werfen zu wollen, bedeutet immer auch, in Vergangenes abzutauchen, sich damit auseinander setzen zu müssen. 10000 Mal. „Ich bin eher der Wegwerftyp“, sagt eine Freundin. Warum? Damit da Platz ist für Neues, sagt sie, ohne Nachdenken zu müssen. Die Glückliche.

Die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion beschreibt in ihrem eindrucksvollen Buch „Das Jahr magischen Denkens“ den Abschied von ihrem plötzlich verstorbenen Mann. Bis auf ein markantes Sweatshirt und ein T-Shirt gibt sie ein knappes Vierteljahr nach seinem Tod mit langsam wachsendem Mut seine Kleidung an kirchliche Einrichtungen. Im letzten Durchgang stößt sie auf ein Paar Schuhe: „Ich konnte seine restlichen Schuhe nicht weggeben. Ich stand dort eine Weile, bevor ich begriff, warum: Er würde seine Schuhe brauchen, wenn er zurückkam.“ Didion erkennt das Irreale dieses Gedankens, verweigert sich der Botschaft der Schuhe jedoch nicht – und beendet die Entrümpelungsaktion. Dinge haben ein mitleidsloses Vermögen, auszuharren. Sie haben Mitteilungsdrang, Rhythmus und Melodie. Manchmal jedenfalls und auch nur für manche.

Unser Verhältnis zu den Dingen ist ambivalent

Es gibt Menschen, die schreiben in jedes Buch, das sie sich ins Regal stellen, wann sie es gekauft haben oder wer es ihnen geschenkt hat. Ihr Bücherregal zeichnet die Lesebiografie ihres Lebens, von der sie sich nicht trennen können. Ist das schrullig? Man muss nicht zwangsläufig Messie sein, um zu wissen, dass es schwer ist, sich von Dingen zu trennen. Die Gegenstände, die uns umgeben, weil wir sie uns einmal in unser Leben geholt haben, sind nicht einfach nur in Form gebrachte Materie. Es geht hier weder um unter der Küchenbank gehortete Pfandflaschen, für die nur der Fernsehfinanzberater Peter Zwegat eine einleuchtende Verwendung hat. Noch geht es um die Zeitungsstapel der letzten zwei Jahre, deren Inhalte man irgendwann lesen wollte. Um Flaschen und Druckwerk aus unserem Leben zu entfernen, braucht es nur wenig Energie. Kündigt man jedoch öffentlich in einem der sozialen Netzwerke an, nun seine Bücher sukzessive zu entsorgen, hagelt es Ermahnungen, das doch bitte sein zu lassen. Aber sie aufnehmen und ihnen ein bisschen Platz im eigenen Regal zu gewähren, mag dann doch niemand. Es ist ein Kreuz mit den Dingen, unser Verhältnis zu ihnen ist sehr ambivalent.

„Ich werfe gerade ganz viel weg“, sagt Jule (40). Sie hat sich frisch getrennt. Aufräumen heißt für sie, wieder Klarheit in ihr Leben zu bringen. „Leere tut gut“, sagt sie. Ihr Leben sei so schön übersichtlich geworden, sie fühle sich freier. Der Säuberungsaktion zum Opfer gefallen sind alte Weihnachtskarten, Briefe und auch der Ordner mit der Verfassungsbeschwerde, die sie einmal eingereicht hat, ebenso wie die Klamotten, die nur noch im Schrank hingen. Auch defekte Möbel wandern in den Sperrmüll. Bücher kommen weg, aber nicht in die Tonne, sondern auf den Flohmarkt. Tempi passati. „Diese Dingen sprechen nicht mehr. Sie sind stumm“, sagt Jule.

Andere erzählen weiter ihre Geschichten, erinnern an Menschen. Der kleine Spielzeughund etwa, den Jule als Kind hinter sich her gezogen hat. „Den werfe ich natürlich nicht weg. Auch wenn den im Moment niemand benutzt. An dem hängt Kindheit. Der spricht.“ Das tut eigentlich auch das Plakat, das an ein über 20 Jahre zurückliegendes Marla-Glen-Konzert in Tübingen erinnert. Aber genauso lang hing es eben auch an keiner Wand. Mehrere Tage liegt es in der Altpapiertonne. Immer mal wieder ist Jule kurz davor, es zurückzuholen in ihr Leben. „Als die Müllabfuhr dann endlich da war, war das ein gutes Gefühl.“ Abschiednehmen ist nicht immer so leicht, wie man sich das wünscht. Jule erzählt nachdenklich von Freunden, die vorschnell und unüberlegt auch den Füller des Vaters entsorgt hatten. Als sie ihn vermissten, mussten sie ihn teuer vom Entrümpler zurückkaufen. Das ist wohl das Prinzip von Flohmärkten. Sie sind Jahrmärkte verlorenen Lebenserinnerungen.

Den Kindern das Entrümpeln ersparen

Mit bewundernswerter Heiterkeit erzählt Johannes (65) von den Glücksgefühlen, die sich bei seinen Wegwerfaktionen in den vergangenen Monaten eingestellt haben. Er ist jetzt Rentner, hat einen Job mit viel Verantwortung hinter sich gelassen. Ein Leben lang hat er sich durch Bücher gewühlt, liebt Musik und das Singen. Johannes ist ein Mensch mit Sinn für Zwischentöne. Dennoch hat er das Haus der Schwiegermutter vor einiger Zeit zusammen mit Schwager und Schwägerin mit der brachialsten aller Methoden geräumt. In einem randvoll beladenen 3,5-Tonner haben sie die Ausbeute eines ganzen Lebens auf den Wertstoffhof gefahren. „Wir waren in einem richtigen Wegwerfrausch“, sagt er. So wie ihm damals klar war, dass keiner seiner drei Söhne und deren Familien etwas aus diesem großmütterlichen Haus benötigt, sagt er jetzt rational: „Das braucht niemand hier“, und zeigt auf zusammengesammeltes Meißner Porzellan und Bücherberge in seinem Haus. Entrümpelungsaktionen will er seinen Kindern ersparen.

„Was ist wirklich wichtig?“, fragt Johannes sich. Das, was sie besitzen, haben er und seine Frau sich selbst erarbeitet: Haus, Auto, Ausbildung der Kinder, den Familienurlaub mit allen, jedes Jahr bis heute. Es geht ihnen gut. Als sie geheiratet haben, zogen sie in eine leere Wohnung. Sie hatten schlicht nichts. „Sachen sind mir nicht wichtig“, sagt Johannes. Höchstens die Taschenuhr seines Großvaters, die rettete dem im Ersten Weltkrieg das Leben. Weil er sie vergessen hatte, verließ er den Unterstand, den dann ein feindliches Geschoss zerstörte. „Ohne diese Uhr gäbe es mich nicht“, sagt Johannes. „Ansonsten könnte ich alles hergeben.“ Am liebsten bei Lebzeiten.

Die Dinge sind emotional aufgeladen

Und dann kann er dennoch erklären, wie emotional die Dinge manchmal aufgeladen sind. Als Johannes vor einigen Jahren im Krankenhaus lag und es um Leben und Tod ging, denkt er viel nach. Er gibt sich und dem Schicksal ein Versprechen. „Wenn ich überlebe, gebe ich das Ding weg, das ich am liebsten habe“. Es ist der Flügel, den er wider alle Vernunft noch als Student gekauft hat. 13 000 Mark hat er gekostet, in Raten hat er ihn abbezahlt.

Nach Johannes’ Genesung kommt der Flügel zu einem Klavierbauer und Händler. Er tut nun seinen Dienst bei einem Kammersänger in Hamburg. Für seinen Sohn lässt Johannes das Klavier seiner Mutter aufarbeiten. Ein Traditionsstück aus dem Jahr 1912, auf dem er selbst mit ihr musiziert hat. „Als ich mit meinem Sohn vierhändig auf dem Klavier gespielt habe, sind mir fast die Tränen gekommen“, erinnert Johannes sich. Auch für ihn haben die Dinge sehr wohl eine Stimme, die er, mal lauter und mal leiser, doch hört. Und die den Wegwerfrausch übertönen kann. Die Dinge machen es uns manchmal nicht leicht.