Die russische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch eröffnet im Schauspielhaus das Festival „Lesart“.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Sie hat bernsteinfarbene Haare und bernsteinfarbene Augen. Eingeschlossen in diese Augen ist der lange Weg Russlands seit Stalin in die Gegenwart. Die russische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch eröffnete am Donnerstag das Esslinger Literaturfestival Lesart. Es war eine Sternstunde des Journalismus wie der Literatur gleichermaßen, doch „ich mache keinen investigativen Journalismus“, sagte sie nach der Vorstellung im Esslinger Schauspielhaus im Gespräch, „ich will die Seelen suchen.“

 

So arbeiten diese beiden Disziplinen im Werk von Swetlana Alexijewitsch einträchtig zusammen. Sie hat als eigene Kunstform von 1983 an Interview-Romane geschaffen, eckte damit im Sozialismus an, und verlor ihre Stellung bei einer Literaturzeitschrift – aber die Ungnade des Staates brachte ihr auch Freiheit. Freiheit herumzureisen und die Menschen zu befragen. Oft redete sie tagelang, manchmal eine Woche mit ihren Protagonisten. Sie interviewte keine Helden, nur Menschen, die nie jemand fragte. Sie schaffte es, ihre Herzen zum Sprechen zu bringen und zurück blieben meisterliche Sätze, die der Schauspieler Sebastian Röhrle meisterlich vorlas: „Von fremdem Leid, das Gott uns auf die Schwelle gelegt hat“, erzählt ein Tadschike, eine Business- Frau spricht über „die Einsamkeit, die fast so aussieht wie Glück.“

Die Brüche der russischen Gesellschaft von Stalin über Gorbatschow bis zu Putin gehen auch mitten durch die Protagonisten von Swetlana Alexijewitsch Buch „die Secondhand-Zeit“. Aber die Literatur helfe, die Dinge zu verstehen, „in dieser – ja – verrückten Zeit“, beschreibt der Moderator und Chefredakteur der Esslinger Zeitung, Gerd Schneider, die Reise der Nobelpreisträgerin durch die Trümmer der sozialistischen Gesellschaft. Den Fragen Gerd Schneiders antwortete Swetlana Alexijewitsch auf ganz eigene Weise. Es waren Geschichten aus Russland, die sie nach und nach auf eine lange gedankliche Kette fädelte, an deren Ende schließlich die Antwort kam.

Auch die Fragen des Publikums, das politische Statements abfragen wollte, konnte sie nicht politisch beantworten. Sie blieb bei der Literatur, beim Ausloten von Seelenzuständen. Ob es ein Fehler der Nato sei, an die russische Grenze zu gehen, fragte ein Mann. Russland mache Angst, antwortete die Nobelpreisträgerin, aber Russland werde auch geängstigt.

Wie gehe Russland mit Tschernobyl um, fragte Gerd Schneider: „Wir haben es noch nicht geschafft, das zu begreifen und zu verarbeiten“, antwortete sie, „wir nicht und auch die Japaner haben nicht verarbeitet, was in Fukushima passiert ist.“

Die Nobelpreisträgerin zeichnete ein beängstigendes Bild vom Russland Stalins. Der Staat hatte kein Erbarmen und die Menschen untereinander auch nicht, urteilt sie: Der Kommunismus ist das Opium für die Intellektuellen, und diese Ideen entstellten den Menschen so lange, bis Blut fließt. Sie zeichnete ein genauso beklemmendes Bild vom Russland der Gegenwart: Putin ist für sie die Spitze eines Eisbergs von Nationalisten, die eine Idee bräuchten, die größer sei als sie selbst, und die mit wehenden Fahnen in den Krieg nach Syrien zögen. „Wir sind alle in der Hand von irren Einzelpersonen“, resümierte sie und bekam an dieser Stelle ihren größten Applaus.

Man weiß allerdings nicht, ob die Aussagen, die sie in den Interviews zusammengetragen hat, tatsächlich eine realistische Sicht auf Russland zeigen, oder ob sie die pessimistischen Protagonisten deswegen ausgesucht hat, um für ihren eigenen Pessimismus eine Bestätigung zu finden. Ihrem Volk traut gerade sie wenig Gutes zu: „Es ist die Finsternis, die aus der Tiefe des Volkes kommt“, sagte sie, „das ganze russische Leben dreht sich um den Tod.“