Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Hinter dem Aktenzeichen 2 BvR 392/07 verbirgt sich vor allem eine Tragödie. Unter diesem Kürzel ist der Fall eines sächsischen Geschwisterpaars in die Rechtsgeschichte eingegangen, der die Gerichte bis in die höchste Instanz beschäftigt hat. Letztlich trug er dazu bei, das Inzestverbot in Deutschland zu zementieren.

 

Es geht um die Liebe zwischen Patrick S. und seiner Schwester Susan K. „Dieses Glück ist eine Schande“, war darüber in einem Boulevardblatt zu lesen. Die beiden hatten vier gemeinsame Kinder. Patrick S. wurde deshalb mehrfach zu beachtlichen Freiheitsstrafen verurteilt, musste sie zumindest zum Teil auch absitzen. Die Kinder wurden ihnen entzogen. Sie haben sich dagegen durch alle Etagen der Justiz zur Wehr gesetzt, unterlagen aber sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Wie die unterschiedlich abgekürzten Familiennamen andeuten, sind die beiden nicht unter einem Dach aufgewachsen. Patrick S. kam 1976 zur Welt, seine Schwester 1984. Kurz vor ihrer Geburt trennten sich die Eltern. Susan K. wuchs bei ihrer Mutter in einem Dorf bei Leipzig auf, ihr Bruder in der Adoptivfamilie nahe Potsdam. Als sie sich kennenlernten war er 23, sie 16. Für beide gilt ein Satz, der sich im Urteil des Verfassungsgerichts findet: „Die Erziehungssituation sei äußerst belastet gewesen.“ Der Frau attestierten die Richter eine „schwere Persönlichkeitsstörung“ sowie eine „leichte geistige Behinderung“.

Die Anwälte dieses seltsamen Paares sprechen von einer „tragischen Liebesbeziehung“. Sie haben eine Frage aufgeworfen, die noch immer im Raum steht: „Soll man das bestrafen?“

Der Fall hat den Ethikrat animiert, das Inzestverbot neu zu überdenken. Die Befürworter einer Liberalisierung wollen ihn aber keineswegs als Präzedenzfall verstanden wissen. Dafür taugt er wohl kaum. Es gibt andere Fälle. Sie werden vom Ethikrat anonym zitiert.

Wie ist die Rechtslage?

Es kommt selten vor, dass Verfassungsrichter sich mit Kulturgeschichte auseinandersetzen. In diesem Fall lohnt es sich, einen Auszug aus ihrem Urteil zu zitieren.

Der Abriss fasst in wenigen Zeilen die Jahrtausende alte Rechtsgeschichte des heiklen Delikts zusammen: „Die Wurzeln des Inzestverbots reichen zurück bis in das Altertum. Ausprägungen des Verbots finden sich im Kodex des Hammurabi (Anmerkung der Redaktion: einer Gesetzestafel in Keilschrift aus dem 18. Jahrhundert vor der Zeitrechnung), im mosaischen und islamischen Recht, im Recht der griechischen Antike, im römischen, in ausgedehnter Form im kanonischen und im germanischen Recht sowie in den frühen deutschen Strafrechtsgesetzen etwa in der Bamberger Halsgerichtsordnung (von 1507). Das Inzest-Motiv hat auch Eingang in – für die Verfasstheit früher Rechtskulturen aussagekräftige – Mythen und Sagen gefunden, und ihm kommt seit jeher große Bedeutung in der Dichtung zu.“ So weit die Volkshochschule Karlsruhe im Originalton des Bundesverfassungsgerichts.

Nach heutigem Strafrecht ist in Deutschland der Beischlaf zwischen biologisch Verwandten mit bis zu drei Jahren Haft belegt. In anderen Ländern bleiben solche Beziehungen hingegen straflos. Das zeigt eine vergleichende Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, auf die der Ethikrat verweist.

Demnach wird Inzest etwa in Australien, England, Italien, Schweden, der Schweiz und nahezu allen Bundesstaaten der USA ähnlich wie bei uns bestraft. In Frankreich wurde die Strafbarkeit aber schon 1810 aufgehoben. Straflosigkeit besteht auch in den Niederlanden, Portugal, Russland, Spanien, der Türkei, China und vielen lateinamerikanischen Staaten.

Was will der Ethikrat?

Eine Mehrheit von 14 Mitgliedern spricht sich für eine Revision des Inzest-Paragrafen aus. So soll der „einvernehmliche Beischlaf unter erwachsenen Geschwistern“ erlaubt werden. „Was hat der Staat in solchen Beziehungen zu suchen?“, fragt der Psychotherapeut Michael Wunder, der die einschlägige Arbeitsgruppe des Ethikrats geleitet hat.

Straflos sollen auch Geschwister bleiben, die eine Beziehung unterhalten, wenn einer der Partner minderjährig, aber zumindest 14 Jahre alt ist und beide seit längerem nicht in einer gemeinsamen Familie leben. Das bisherige Recht bedeute einen „tiefen Einschnitt in die sexuelle Selbstbestimmung und damit in einen Kernbereich privater Lebensgestaltung“, sagt Wunder.

Der Ethikrat nimmt vor allem an einem Argument Anstoß, mit der auch das Verfassungsgericht sein positives Urteil zum Inzestverbot begründet hat. Die umstrittene Rechtsnorm, heißt es dort, könne „auch unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Erbschäden nicht als irrational angesehen werden". Dies wertet der Ethikrat als „Rückfall in längst überwunden geglaubte eugenische Denkweisen“. Nach dieser Logik müssten auch Paare, bei denen anderweitige genetische Risiken bekannt seien, mit einem Zeugungsverbot belegt werden. Das werde jedoch aus gutem Grund nicht ernsthaft erwogen.

Der Inzest-Paragraf tauge auch nicht zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Dafür gebe es ausreichend andere Strafnormen. Auch das Hauptargument der Befürworter, er schütze die Institution der Familie, wird angezweifelt. In den meisten Fällen gehe es um Beziehungen zwischen Geschwistern oder Halbgeschwistern, die nicht gemeinsam aufgewachsen seien. Hier diene das Strafrecht nur dem „Schutz bloßer Abstrakta“ oder es gefährde sogar eine neu formierte Familie.

Bei Geschwistern, die unter einem Dach aufwachsen, gebe es hingegen eine Art „biologische Inzesthemmung“. Fälle, die sich innerhalb eines familiären Lebensgemeinschaft abspielen und in denen ein Partner noch nicht volljährig ist, sollen weiter einer Bestrafung unterliegen. Zum Inzest zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat sich der Ethikrat nicht geäußert.

Warum gibt es Gegenstimmen?

Die neun Mitglieder des Ethikrats, die das Votum der Mehrheit nicht mittragen, stützen sich auf Artikel 6 des Grundgesetzes, der die Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ stellt. Zu dieser Minderheit gehören unter anderem der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff sowie der frühere Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP).

Sie befürchten, eine Revision des umstrittenen Paragrafen wäre als „irritierendes Signal“ zu missverstehen, „das das ethisch wie verfassungsrechtlich fundierte Schutzgut zu relativieren und zu schwächen geeignet ist“. Wenn das Inzestverbot aufgeweicht würde, dann könne dies „Destabilisierungsprozesse“ auslösen. Die Kritiker einer solchen Liberalisierung warnen vor „Gefahren für die Integrität familialer Strukturen“.

Die Meinung des Ethikrats wird wohl verhallen

Wird ein Tabu zu Fall gebracht?

„Das Strafrecht ist kein geeignetes Mittel, um ein Tabu zu schützen“, kontert der Psychologe Wunder. Er verweist auf „die bemerkenswerte Tatsache, dass Inzest in Gesellschaften, in denen keine Strafandrohung besteht, nicht häufiger vorkommt als bei uns“. Auch die Homosexualität habe sich nicht vermehrt, nur weil der so genannte Schwulen-Paragraf 175 vor 20 Jahren aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde.

Weder hier noch da habe die Norm eine „generalpräventive Wirkung“. Die Mehrheit im Ethikrat vertritt die Ansicht, eine Lockerung des Inzestverbots werde das gesellschaftliche Tabu nicht abschwächen. Weder sei „eine Zunahme von Inzesthandlungen, geschweige denn eine Ermutigung dazu zu erwarten“.

Was folgt daraus?

Die Stellungnahme des Ethikrats richtet sich an die Bundesregierung wie an den Deutschen Bundestag. Es ist aber nicht anzunehmen, dass der umstrittene Paragraf 173 tatsächlich geändert wird. Darauf lassen erste Reaktionen schließen.

Der familienpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, Marcus Weinberg, nennt das Votum der Experten „unverständlich“. Die Mehrheit seiner Fraktion werde sich dem nicht anschließen. Kinder und Jugendliche hätten „ein Recht, in der Familie frei von inzestuösen Handlungen aufzuwachsen“. Eine Liberalisierung wertet er als „falsches und fatales Signal“.

Ähnlich äußert sich die rechtspolitische Sprecherin der Union, Elisabeth Winkelmeier-Becker: „Der Wegfall der Strafandrohung gegenüber inzestuösen Handlungen innerhalb von Familien würde dem Schutz der unbeeinträchtigten Entwicklung von Kindern in ihren Familien zuwider laufen“, argumentiert die CDU-Frau. Die Diskussion dürfe nicht auf Fälle verengt werden, bei denen nur erwachsene Verwandte beteiligt seien, die nicht gemeinsam aufgewachsen sind.

Für solche Konstellationen biete der Umstand, dass es sich hierbei nur noch um ein Vergehen handle und die Staatsanwälte in der Praxis Spielräume hätten, „hinreichende Möglichkeiten zu einem angemessenem Vorgehen“. Im Vordergrund stehe für die Union der Schutz Heranwachsender. „Fast immer geht Inzest mit der Abhängigkeit eines Partners und äußerst schwierigen Familienverhältnissen einher“, warnt die Christdemokratin. Sie begrüßt deshalb das Sondervotum der Minderheit des Ethikrats.

Ein tragisches Paar als Auslöser

Hinter dem Aktenzeichen 2 BvR 392/07 verbirgt sich vor allem eine Tragödie. Unter diesem Kürzel ist der Fall eines sächsischen Geschwisterpaars in die Rechtsgeschichte eingegangen, der die Gerichte bis in die höchste Instanz beschäftigt hat. Letztlich trug er dazu bei, das Inzestverbot in Deutschland zu zementieren.

Es geht um die Liebe zwischen Patrick S. und seiner Schwester Susan K. „Dieses Glück ist eine Schande“, war darüber in einem Boulevardblatt zu lesen. Die beiden hatten vier gemeinsame Kinder. Patrick S. wurde deshalb mehrfach zu beachtlichen Freiheitsstrafen verurteilt, musste sie zumindest zum Teil auch absitzen. Die Kinder wurden ihnen entzogen. Sie haben sich dagegen durch alle Etagen der Justiz zur Wehr gesetzt, unterlagen aber sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Wie die unterschiedlich abgekürzten Familiennamen andeuten, sind die beiden nicht unter einem Dach aufgewachsen. Patrick S. kam 1976 zur Welt, seine Schwester 1984. Kurz vor ihrer Geburt trennten sich die Eltern. Susan K. wuchs bei ihrer Mutter in einem Dorf bei Leipzig auf, ihr Bruder in der Adoptivfamilie nahe Potsdam. Als sie sich kennenlernten war er 23, sie 16. Für beide gilt ein Satz, der sich im Urteil des Verfassungsgerichts findet: „Die Erziehungssituation sei äußerst belastet gewesen.“ Der Frau attestierten die Richter eine „schwere Persönlichkeitsstörung“ sowie eine „leichte geistige Behinderung“.

Die Anwälte dieses seltsamen Paares sprechen von einer „tragischen Liebesbeziehung“. Sie haben eine Frage aufgeworfen, die noch immer im Raum steht: „Soll man das bestrafen?“

Der Fall hat den Ethikrat animiert, das Inzestverbot neu zu überdenken. Die Befürworter einer Liberalisierung wollen ihn aber keineswegs als Präzedenzfall verstanden wissen. Dafür taugt er wohl kaum. Es gibt andere Fälle. Sie werden vom Ethikrat anonym zitiert.

Betroffene beklagen sich, „weil ein System uns nicht leben lässt, wie wir leben wollen“. Die Vorsitzende des Ethikrats, Christiane Woopen, fasst ihre Erfahrungen aus einschlägigen Gesprächen so zusammen: Sie habe eine „ganz persönliche Hoffnung“, sagt die Professorin für Medizinethik, „nämlich die, dass etwas so Wunderschönes und Wertvolles wie die aufrichtige Liebe zwischen zwei Menschen, die keinen anderen Menschen tiefgreifend schädigt, in unserer Gesellschaft lebbar sein möge.“