Kandidat für die Milliardenförderung der EU: Aus den Daten sozialer Netzwerke und vieler Computer wollen Forscher „Orientierungshilfen“ für die Gesellschaft extrahieren. Manche sprechen von einem „Erdsimulator“, doch das gefällt den Forschern nicht.

Stuttgart - Ein „Erdsimulator“? Für den ersten Eindruck ist das Bild nicht schlecht: Mit Futur-ICT will eine internationale Forschergruppe aus Physikern, Mathematikern, Informatikern und Sozialwissenschaftlern Vorhersagen über gesellschaftliche Entwicklungen treffen. Dafür sollen Daten aus sozialen Netzwerken, von intelligenten Fahrzeugen oder auch Navigationssystemen ausgewertet werden. Zudem wollen die Forscher verstehen, wie sich die Verschmelzung von realer und digitaler Welt auf die Gesellschaft auswirkt.

 

Die Forscher sind mit Begriffen wie dem Erdsimulator allerdings weniger glücklich: „Das ist zu reißerisch“, sagt Paul Lukowicz, wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. „Es ist nicht unser Anspruch, eine Maschine zu entwickeln, die die Welt vorhersagt.“ Futur-ICT (die Abkürzung ICT steht für: Informations- und Kommunikationstechnologien) will all die Informationen, die in der vernetzten Welt bereits vorhanden sind, zusammenführen und in mathematische Modelle einfügen.

Lukowicz, der die deutschen Aktivitäten im Projekt koordiniert, vergleicht das mit der Wettervorhersage: „Früher hat ein alter Mann in den Himmel geschaut und aufgrund seiner Erfahrung gesagt, wie wohl das Wetter wird.“ Heute hingegen gibt es ein globales Netzwerk von Messstationen, aus deren Daten ein Szenario berechnet wird, wie sich das Wetter entwickeln wird.

Der Finanzwirtschaft könnten psychologische Daten helfen

„Viele Entscheidungen in der Politik werden heute ähnlich getroffen wie früher die Wettervorhersage“, sagt Lukowicz: auf der Grundlage von Erfahrung, weniger auf gesicherten Daten. Dabei geht es den Forschern nicht darum, den gesunden Menschenverstand abzuschaffen. Aber er könnte Verstärkung gebrauchen. Projektleiter Dirk Helbing, Soziologe an der ETH Zürich und früherer Mitarbeiter der Uni Stuttgart, spricht von einer „Orientierungshilfe“, ein globales Echtzeit-Messgerät für die Welt.

„Anfangs fanden wir das Projekt gleichzeitig spannend und unheimlich“, bekennt Albrecht Schmidt vom Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme der Universität Stuttgart: „Daten können schließlich missbraucht werden.“ Aber warum sollen nur Google und Facebook Daten nutzen, noch dazu aus kommerziellem Interesse? „Wenn etwas Potenzial hat, darf es an der Gesellschaft nicht vorbeigehen“, sagt Schmidt. Sein Anteil an Futur-ICT ist es, demokratische Zugriffsmöglichkeiten für den Datenpool zu entwickeln. „Jeder, der heute eine Internetseite programmieren kann, soll dann eine eigene Anwendung entwickeln können.“

Kritiker fragen jedoch, wie es um den Schutz der Privatsphäre steht. Die Menschen müssten selber festlegen können, welche Daten sie für welche Zwecke frei geben wollen, sagt Schmidt. Und kann man den Menschen wirklich berechnen? Lukowicz verweist auf die Finanzkrise: Vor ihr hätten manche gewarnt wie der alte Mann vor dem Sturm. Aber sie fanden kein Gehör. „Vielleicht hätte eine bessere Datenbasis geholfen.“ Beispielsweise Daten aus sozialen Netzwerken, um die finanztechnischen Berechnungen um psychologische Komponenten zu ergänzen: Gehen die Menschen in billige oder teure Läden? Wie diskutieren sie über die Probleme Griechenlands? Dies sagt etwas über die Stimmung aus.

Auch die Größe der Projekte und die Milliardenförderung der EU wird kritisiert. Wäre das Geld nicht besser in viele kleine Projekte investiert? Lukowicz verweist auf die komplexe Problemstellung: „Wir müssen eine kritische Masse an Ideen und Menschen zusammenbringen.“ Auch der lange Zeitraum von zehn Jahren sei dafür wichtig: „Man hätte auch nicht durch eine Zusammenfassung vieler kleiner Projekte zum Mond fliegen können.“