Patienten werden verlegt, Häftlinge in andere Gefängnisse gebracht: Der Countdown zur Entschärfung der Fliegerbombe in Koblenz läuft.

Koblenzt - Mit dem "worst case", dem schlimmsten aller Fälle, rechnet am Sonntag niemand. Doch die Vorbereitungen laufen, als könnte es ihn geben. Und das bedeutet, dass bei der Entschärfung von zwei Bomben und einer Sprengung eines Behälters in Koblenz, vor allem einer 1784 Kilogramm schweren Luftmine aus dem Zweiten Weltkrieg, etwas schiefgeht. Sollte vor allem diese "Großladungsbombe", wie Experten sie bezeichnen, hochgehen, wäre es auch um Horst Lenz vom Kampfmittelräumdienst und sein vierköpfiges Team geschehen. Doch das wagen sich weder er noch jemand anders in Koblenz auszumalen.

 

Gleichwohl stellt sich die 106.000 Einwohner zählende Stadt an der Mündung der Mosel in den Rhein auf diese Möglichkeit ein. Und das heißt, dass in einem Umkreis von 1800 Metern rund um den Fundort bis Sonntagmorgen 45.000 Menschen in Sicherheit gebracht werden müssen, gleich ob alt oder jung, krank oder gesund, gleich ob sie zu Hause wohnen oder im Gefängnis untergebracht sind.

Kamerateams und "Katastrophentouristen"

Werner Schmidt wohnte nicht einmal einen Steinwurf von der jetzt entdeckten 1,8 Tonnen schweren und 2,8 Meter langen Mine entfernt. Und die Erinnerungen, die ihn in diesen Tagen befallen, sind nicht die angenehmsten. Sie haben mit Fliegeralarm, Zerstörung, brennenden Häusern, der in Schutt und Trümmer zerlegten Kirche und verschütteten Nachbarn in dem Stadtteil Pfaffendorf zu tun. Der 77-jährige Metzgermeister, der sein Geschäft an der Emser Straße 152, direkt gegenüber dem Rhein und dem Bombenfundort, in sechster Generation an den Sohn übergeben hat, wird am Sonntag zu seiner Tochter in den Westerwald fahren und die Entschärfung der Luftmine dort abwarten.

Am Freitag verfolgt er vom Laden aus, wie Kamerateams und "Katastrophentouristen" die Vorbereitungen für die Entschärfung beobachten. Dabei ergreift ihn ein "mulmiges Gefühl", denn es ist eng verknüpft mit den schweren Luftangriffen von 1944/45 auf Koblenz.

"Passieren kann immer etwas"

Horst Lenz will ähnliche Szenarien gar nicht erst aufkommen lassen. Der Chef des Kampfmittelräumdienstes wirkt in seiner Weste und mit seinem Schnauzbart in sich ruhend und vertrauenerweckend. Aber auch wie einer, der zupacken kann. Auf seine Fingerfertigkeit und Kraft und die seiner vier Kollegen kommt es an, damit die Aktion reibungslos über die Bühne geht. Aber: "Passieren kann immer etwas", sagt er. Hat der 56-jährige Vater von fünf Kindern Angst? "Nee. Respekt, denn dies ist doch Metall und Chemie", also weitgehend berechenbar.

Dabei ist die 1,8-Tonnen-Splitter-Mine mit ihren drei Kopfzündern, die die britische Luftwaffe abgeworfen hatte und die jetzt durch den Niedrigwasserstand des Rheins sichtbar geworden ist, nicht das einzige hochexplosive Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, das es am Sonntag zu entschärfen gilt. Etwa 208 Meter entfernt liegt noch eine 125 Kilogramm schwere Fliegerbombe. Zudem wurde ein Tarnnebelfass gefunden. "Das kleine Ding ist viel problematischer", sagt Lenz. "Denn die Bodenplatte fehlt, und die Hülle hat sich durch den Aufprall offensichtlich verspannt."

Dunstkreis ist wörtlich zu nehmen

Der Fachmann ist jedoch keineswegs beunruhigt. Wie viele Bomben er denn schon entschärft habe? "Och, einige Hundert", antwortet er, als sei es das selbstverständlich. "Die Umgebung macht es kompliziert", sagt er über die seit Donnerstag laufende Evakuierung der Koblenzer Innenstadt, die im "Dunstkreis" der Bomben liegt. Dunstkreis ist wörtlich zu nehmen, denn das Tarnnebelfass, das, so Lenz, in der Regel Fluss- und Kohlensäure enthalte, solle kontrolliert in die Luft gejagt werden. Dabei könnten sich Chemikalien freisetzen.

So wird die Feuerwehr am Sonntagabend erst nach Messungen grünes Licht für die Rückkehr der Bevölkerung geben. Welche Schäden bei einer unkontrollierten Detonation einer Bombe entstehen können? Lenz wagt es sich nicht vorzustellen, meint aber: "In 40 bis 50 Meter muss man mit einer Totalzerstörung rechnen."

Drei Bundesstraßen werden dicht gemacht

Doch dass das nicht passiert, ist Sache der Stadt, der Polizei und der Hilfsorganisatoren. Zwei Krankenhäuser, zum Teil mit liegenden Schwerstkranken und Komapatienten, sowie sieben Seniorenheime gilt es zu räumen. Die etwa 200 Häftlinge eines Gefängnisses haben bereits am Donnerstag Platz in anderen Anstalten des Landes gefunden. Am Sonntag, wenn von sieben Uhr an Lautsprecherwagen durch das "Sperrgebiet" fahren, um die Bewohner zum Verlassen ihrer Häuser aufzufordern, haben diese noch zwei Stunden Zeit, dem Folge zu leisten.

Von acht Uhr an geht dann auf den Straßen, dem Hauptbahnhof und seinen Gleisen sowie auf dem Rhein nichts mehr. Zudem werden drei Bundesstraßen dicht gemacht. Und auch der Weihnachtsmarkt hat Ruh, zum Kummer der Aussteller, die dem verkaufsstärksten Adventswochenende nachtrauern werden.

Einstweilen bereiten die Bombenspezialisten und das Bergungsunternehmen Mammut aus Holland die Entschärfung der Splitterbombe vor. Dazu wurde der fast drei Meter große im Wasser liegende Metallzylinder mit 350 mit Sand gefüllten Taschen eingegrenzt und mit 2500 kleineren Sandsäcken abgedichtet. Entschärft wird auf dem Trockenen. Das gilt auch für die 125-Kilo-Bombe. Werner Schmidt wird das alles über Radio verfolgen und vermutlich aufatmen, wenn es am Sonntagabend heißt: "Alle Sprengkörper unschädlich gemacht."

Eine Stadt rüstet sich für den Ernstfall

Mammuteinsatz: Helfer aus ganz Rheinland-Pfalz werden bei der Evakuierung in Koblenz mit anpacken. Dann werden im Rhein auf Höhe des Stadtteils Pfaffendorf eine 1,8 Tonnen schwere britische Fliegerbombe, eine 125 Kilo schwere US-Fliegerbombe sowie ein Nebelfass entschärft. Es ist die größte Evakuierung wegen einer Bombenentschärfung in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg.

Zahlen: Etwa 45.000 Bewohner müssen ihre Häuser verlassen, 200 Häftlinge werden verlegt, 12.000 Plätze in sieben Betreuungsstellen stehen bereit, sieben Altenheime mit 350 Bewohnern werden geräumt. 180 Patienten aus zwei Krankenhäusern werden verlegt. Aus Privathaushalten werden 130 pflegebedürftige Menschen mit 45 Rettungswagen und 117 Krankentransportwagen abgeholt. Insgesamt sind 2500 Einsatzkräfte dabei, darunter 700 Feuerwehrleute, 400 Polizisten, mehr als 400 Helfer des Sanitätsdienstes, 100 Mitarbeiter des Ordnungsamtes sowie 400 Helfer des Technischen Hilfswerkes.

Geschichte: Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg liegen noch Zehntausende von Blindgängern im Erdreich. Sie müssen von Spezialisten entsorgt werden. Im Dezember 1997 fand eine der bundesweit größten Evakuierungen statt: In Ludwigshafen wurden 26.000 Menschen in Sicherheit gebracht. Die 40-Zentner-Bombe lag bei einer Fabrik, in der Trink- und Industriealkohol hergestellt wurde.