In der EU soll eine große Gruppe von Industriechemikalien verboten werden. Die Hersteller von Funktionskleidung stellen bereits um, doch für die Medizinbranche wäre das völlige Aus fatal.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Das Unternehmen Karl Storz ist ein schwäbischer Mittelständler wie aus dem Bilderbuch. Man konzentriere sich aufs „Schaffen“ und nicht aufs „Schwätzen“ heißt es bei der Firma im beschaulichen Tuttlingen an der Donau. Mit dieser Devise ist man im Laufe der Jahrzehnte zu einem der führenden Hersteller für medizinische Endoskope mit fast 9000 Mitarbeitern aufgestiegen. Doch nun haben die Verantwortlichen bei Karl Storz sich entschlossen, ihre pietistisch geprägte Zurückhaltung abzulegen, und in ihrer Branche die Alarmglocken zu läuten.

 

Präsent in sehr vielen Alltagsgegenständen

Der Grund dafür heißt PFAS. Hinter dem kryptischen Kürzel verbergen sich sogenannte per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen. Zu der Chemikaliengruppe zählen geschätzt über 10 000 einzelne Stoffe, die in Alltagsprodukten wie Anoraks, Pfannen oder Kosmetik verarbeitet sind. In der Industrie werden sie etwa in Dichtungen, Isolierungen oder Kabeln eingesetzt. Sie stecken auch in Lithium-Ionen-Batterien etwa für E-Autos, Windrädern, Halbleitern und auch in Endoskopen, wie sie Karl Storz herstellt.

Nach dem Willen der EU-Kommission sollen die Chemikalien verboten werden. Der Grund: sie sind in der Natur extrem langlebig. Zudem kommen verschiedene Studien zu dem Schluss, dass PFAS Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit haben oder zu Entwicklungsverzögerungen bei Kindern führen können. Auch ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten wird angeführt Laut Untersuchungen der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA sind vor allem tierische Lebensmittel mit PFAS belastet. Spuren von ihnen stecken auch in anderen Lebensmitteln und im Trinkwasser. Das bedeutet, dass auch Menschen diese Stoffe aufnehmen und sie teilweise monatelang zum Beispiel in der Leber anreichern.

Keine Alternative zu PFAS

Natürlich kennen die Verantwortlichen in Tuttlingen diese Studien sehr genau, weshalb sie eine PFAS-Regulierung unterstützen, sich aber gegen ein Totalverbot stemmen. „Wir plädieren für einen klugen, risikobasierten Ansatz, wie ihn beispielsweise die USA oder Großbritannien gehen“, sagt Martin Leonhard, Leiter Government Affairs bei Karl Storz. Das heißt, dass bestimmte Hochleistungskunststoffe wie PTFE zugelassen werden, die zwar zur großen PFAS-Gruppe zählen, aber als unbedenklich eingestuft werden. „Aktuell gibt es keine bekannten oder gar zugelassenen Alternativstoffe etwa für PTFE in der Medizintechnik“, betont Leonhard. Ein drohendes Verbot hält er deshalb für „Irrsinn“.

Er fordert, dass bei einer zukünftigen Regelung zwischen Konsumgütern und anspruchsvollen medizinischen Geräten unterschieden werden müsse. Im Fall einer Regenjacke oder von Kosmetik sei es ziemlich einfach, PFAS-Ersatzstoffe zu finden. „Bei einem Endoskop ist die Sachlage wesentlich komplizierter, denn wir benötigen eine Kombination der besonderen Eigenschaften wie Gleitfähigkeit, elektrische Isolierung, Temperaturstabilität oder Biokompatibilität, um erst sichere und langlebige Produkte für die Patientenversorgung herstellen zu können,“ sagt der Physiker Leonhard. Zudem werde PFAS in medizinischen Geräten nur in geringen Mengen verwendet. Es komme etwa in kleinen Dichtungen an Schlüsselstellen zum Einsatz und sei dort bisher alternativlos.

Umdenken in der Politik in Sachen PFAS

Inzwischen hat die Politik erkannt, dass ein generelles PFAS-Verbot kaum umsetzbar ist. In Brüssel bereits mehrfach vorstellig geworden ist in diesem Fall die Landesregierung von Baden-Württemberg, einem der wichtigen Standorte für Medizintechnik in Europa. Sie schlägt in einem Papier an die EU-Kommission einen „differenzierten Regulierungsrahmen“ vor und fordert „angemessene Übergangsvorschriften und adäquate Ausnahmen“ in den Fällen, in denen es keine Alternativen zur PFAS-Anwendung gibt. Hier liegt das Land auf einer Linie mit der EU-Kommission. Der Vorschlag aus Brüssel sieht vor, dass Unternehmen je nach Verwendungszweck und Verfügbarkeit zwischen anderthalb und zwölf Jahren Zeit gegeben werden soll, um auf alternative Stoffe umzustellen.

Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut hat sich schon früh immer wieder mit Vertretern von Unternehmen, Verbänden und Forschungseinrichtungen getroffen, um die Position des Landes deutlichzumachen. „Dass die EU-Kommission ein pauschales Verbot von PFAS vorsieht, stellt nicht nur unsere Unternehmen vor ein großes Problem“, unterstreicht die Ministerin. „Die Folgen wären auch für unsere Gesellschaft gravierend.“ Selbstverständlich sei ein sehr sorgfältiger Umgang mit den Stoffen notwendig, um Mensch und Umwelt bestmöglich zu schützen, sagt Hoffmeister-Kraut. Gleichzeitig müsse aber eine „genaue Abwägung zwischen dem Nutzen für Mensch, Umwelt und Gesellschaft und den Risiken, die bei der Verwendung dieser Stoffe auftreten können“ erfolgen.

Rückendeckung von der Bundesregierung

Rückendeckung kommt aus Berlin. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) plädiert für einen differenzierten Umgang mit der Chemikaliengruppe. „Bessere Regulierung dort, wo es für den Verbraucherschutz notwendig ist, aber keine Überregulierung für die Wirtschaft, wo es Wachstum und Technologieentwicklung hemmt“, betonte jüngst der Grünen-Politiker. Allerdings fordert er auch: „Da, wo diese Chemikalien nicht sicher für Mensch und Umwelt verwendet werden und gut durch andere Stoffe ersetzt werden können, sollten wir den schnellen Ausstieg befördern. Das gilt vor allem da, wo sie verbrauchernah eingesetzt werden.“

Martin Leonhard bringt ein weiteres Problem ins Spiel, das es Firmen wie Karl Storz unmöglich machen würde, ihre Produktion schnell auf neue Einsatzstoffe umzustellen. „Wenn der Dichtring an einem Endoskop kein spezieller FKM-Gummiring wäre, in dem PFAS zu finden ist, sondern durch Silikon ersetzt würde, müsste man das Gerät komplett neu zertifizieren lassen“, sagt er. Ein solcher Prozess würde viele Jahre dauern, auch wenn nur ein sehr kleines, aber wichtiges Teil ausgetauscht wird.

Weitreichende Folgen für den Klinikalltag

Was das für den medizinischen Alltag bedeuten würde, ist kaum abzuschätzen. Jedes Jahr würden in deutschen Krankenhäusern rund 60 Millionen Operationen oder andere Behandlungsmaßnahmen durchgeführt, heißt es vom Unternehmen Karl Storz. Bei mindestens der Hälfte kämen medizinische Geräte zum Einsatz, in denen PFAS-haltige Stoffe verwendet werden.

Martin Leonhard befürchtet, dass bei einem generellen PFAS-Verbot viele Firmen ihre Produktion aus Europa abziehen würden. Unter den drohen-den restriktiven EU-Bedingungen könnten „sie ihren außereuropäischen Markt ebenfalls nicht mehr bedienen, obwohl es dort kein PFAS-Verbot gibt“.

Im Moment liegt der Ball wieder bei der Europäischen Union. Zuletzt waren über Monate alle Argumente in der PFAS-Diskussion gesammelt worden. Auf dieser Grundlage ist nun die EU-Chemikalienagentur ECHA am Zug, die ein mögliches Verbot beurteilen wird. Aber auch das wird nicht die endgültige Entscheidung sein. Die fällt schließlich die Europäische Kommission gemeinsam mit den EU-Mitgliedsstaaten.