Im hektischen Straßenverkehr von Tokio werden gern Experimente gemacht. Ein Erfinder will nun ein nostalgisches Gefährt neu auflegen: die Rikscha.

Japan - Wer in Tokio lebt, hat zwei Möglichkeiten, zur Arbeit zu fahren. Die eine beinhaltet rohe Gewalt. Zur morgendlichen Stoßzeit sind auf U- und S-Bahnsteigen Trupps starker Männer im Einsatz, um die Passagiere in die überfüllten Züge zu pressen. Mit voller Kraft werfen sie sich gegen die Warteschlangen und quetschen so lange, bis auch der letzte Fahrgast durch die Tür gepasst hat.

 

Platzangst können sich Tokios Pendler nicht leisten. Es sei denn, sie gehören zur kleinen und privilegierten Schicht derer, die auf die andere Weise zur Arbeit kommen: mit dem eigenen Auto. Doch weil Autos in Tokio sehr teuer sind, steht diese Möglichkeit nur jedem zehnten offen.

Dabei könnte es auch einen dritten Weg geben, glaubt Nobuyuki Ogura. Der 55-jährige Erfinder hat ein Gefährt entwickelt, das mehr Großstädtern individuelle Mobilität bescheren soll, und zwar bequemer als per Fahrrad oder Moped. Sein Vehikel fährt elektrisch, hat drei Sitzplätze und ein geschwungenes, offenes Gehäuse aus Stahl und japanischem Washi-Papier. „Meguru“ hat Ogura sein Fahrzeug genannt, was so viel wie „Umwelt“ heißt. „Als wir vor zwei Jahren den ersten Prototypen vorgestellt haben, war die Aufmerksamkeit der japanischen Medien gleich sehr groß“, erzählt Ogura. „Weil niemand gerne in den überfüllten U-Bahnen steht und Autos teuer sind, ist der Bedarf an Alternativen groß.“

Fast lautlos schnurrt die Meguru durch die Straßen

Ogura ist zu einer Testtour in Tokios Innenstadt unterwegs. In den Häuserschluchten ist es brütend heiß und er hat sich ein Frotteehandtuch um den Hals gelegt, damit ihm der Schweiß nicht in den Kragen läuft. In seiner Tasche steckt eine große Tüte Zitronenbonbons, aus der er sich alle paar Minuten bedient. Er stamme aus Osaka, erklärt er, und dort hätten die Menschen immer etwas Süßes im Mund. Fast lautlos schnurrt die Meguru durch den Vormittagsverkehr. Der Fahrwind bringt Kühle. Während sich die Autos vor den Ampeln stauen, fädelt sich das kleine Dreirad behände zwischen ihnen durch.

Passanten fotografieren das ungewöhnliche Gefährt. „Die Meguru ist ein Hingucker“, sagt Ogura. „Und damit sie ein Erfolg wird, muss sie genau das sein.“ Denn eigentlich ist seine Idee ein alter Hut: Ein offenes Gefährt auf drei Rädern ist kaum etwas anderes als eine Rikscha. Zu den moderneren Reinkarnationen des traditionellen Fahrzeugs gehören die sogenannten Tuktuks, motorgetriebene Dreiräder, die in vielen asiatischen Ländern als billiger Autoersatz dienen. Doch den Unterschied macht bei Ogura die Optik: Das Dach der Meguru ist elegant geschwungen, ihre Seitenwände bestehen aus zwei großen, aufklappbaren Fächern aus traditionellem Papier. Der Boden ist aus Bambus, und die Rückbank ein gemütliches Sofa mit Blumenmuster.

„Die Leute sollen es schick finden, in einer Meguru unterwegs zu sein“, sagt Ogura. „Das muss ein Statement für Individualität und Umweltbewusstsein werden.“ Schließlich sei die Meguru als Elektrofahrzeug ein echtes Ökomobil. Mit einer Batterieladung kann sie anderthalb Stunden unterwegs sein, bei einem Tempo von bis zu 40 Stundenkilometern. Eine zweite Batterie lässt sich bequem mitnehmen und zwischendurch austauschen. Aufgeladen wird in der heimischen Steckdose.

Der Listenpreis liegt bei umgerechnet 10 300 Euro

Das Konzept kommt an. „Die Meguru sieht klasse aus und ich könnte mir gut vorstellen, eine zu fahren“, sagt Koya Maruyama, Angestellter einer IT-Firma in Tokios Stadtteil Shinjuku. Für seinen Weg zur Arbeit wäre das Dreirad aber trotzdem kaum geeignet, denn Maruyama wohnt am Stadtrand und würde mit der Meguru jeden Morgen anderthalb Stunden unterwegs sein. „In der S-Bahn ist es zwar fürchterlich eng, aber immer noch schneller“, sagt er. Für Aya Fukuhara käme die Meguru schon eher in Frage. Auch die Endzwanzigerin ist bisher im S-Bahngedränge unterwegs, doch sie braucht nur eine halbe Stunde ins Büro. „Bevor ich ernsthaft über den Kauf nachdenke, muss die Meguru aber noch viel günstiger werden“, sagt sie. Bisher liegt der Listenpreis bei einer Million Yen (10 300 Euro). „Elektrofahrzeuge sind umweltfreundlich und sollten besonders gefördert werden.“

Solche Fahrzeuge könnten den Verkehr flexibler machen

Dabei steht Japan auch ohne besondere Fördermaßnahmen bereits an der Spitze der Einführung elektrischer Fahrzeuge – so wie das Land schon lange als globales Experimentierfeld für den modernen Großstadtverkehr gilt. Bei vielen neuen Trends waren die Japaner, und insbesondere ihre Hauptstadt, dem Rest der Welt voraus, angefangen von Hochgeschwindigkeitszügen bis zu Autos mit Hybridantrieb. Nun sind es die Elektroautos.

Alle japanischen Autohersteller bieten inzwischen sogenannte Minicars an, die häufig mit Batterien betrieben werden. Auch ausländische Hersteller schauen sich die Entwicklungen in Tokio genau an. „Früher sagte man, das Auto habe die Stadt geprägt, aber inzwischen prägt die Stadt das Auto“, sagt Lisa Füting von Audi, Projektleiterin des Audi Urban Future Award. Alle zwei Jahre lädt der Ingolstädter Premium-Hersteller Architekten aus aller Welt zu einem Wettbewerb ein, um Visionen für die Stadt von Morgen zu entwickeln. „Tokio gilt als eine Stadt, in der das Verkehrssystem besonders entwickelt ist“, sagt Füting. Allerdings gebe es auch hier noch viel zu verbessern. So monieren japanische Stadtplaner dass Tokios einzelne Verkehrssysteme, etwa die U-Bahn oder der Straßenverkehr, jedes für sich hocheffektiv seien, die Koordination untereinander aber zu wünschen übrig lasse.

Ideal für kurze Stadtstrecken

Fahrzeuge wie die Meguru könnten den Verkehr flexibler machen, wirbt Ogura. Die Idee entstand, als Ende 2008 die Finanzkrise ausbrach und viele große japanische Fabriken gezwungen waren, ihre hoch qualifizierten Arbeiter zu entlassen. Ogura war zu diesem Zeitpunkt bereits selbstständig. Zuvor war er lange als Ingenieur beim Elektronikriesen Panasonic angestellt, wo er Prototypen für Videorekorder entwickelte. Mit mehreren Mitarbeitern arbeitete er an eigenen Erfindungen.

Zu seinen erfolgreichsten Entwicklungen gehört eine Abfüllanlage für Cremetuben. Auch ein Verfahren zum Verschweißen von Plastikteilen bewährte sich. Weniger Nachfrage bestand dagegen für einen Sushi-Automaten. Wenn es um ihre Fisch-und-Reis-Häppchen geht, vertrauen die Japaner doch lieber auf Handarbeit.

„Nach dem Lehmann-Schock haben einige Kollegen und ich überlegt, was ein Zukunftsprodukt wäre, mit dem wir Jobs für erfahrende Techniker und Handwerker schaffen könnten“, erzählt Ogura. Herausgekommen sei die Elektro-Rikscha. Ideal sei sie für kurze Stadtstrecken oder Stoßzeiten, wirbt der Erfinder. Auch alte Leute oder Tourismusunternehmen sieht er als potenzielle Kunden. Bisher hat Ogura nur verschiedene Prototypen entwickelt, wovon er lediglich ein Exemplar an einen Journalisten verkaufte, der die Meguru in einer TV-Sendung gesehen hatte und sie unbedingt kaufen wollte.

Meguru soll dezentral produziert werden

In Zukunft will er sie jedoch auf den breiten Markt bringen, aber nicht auf dem Weg der üblichen Massenproduktion. „Wenn wir die Meguru in China oder Vietnam fertigen lassen würden, wäre sie sehr billig, aber wir wollen ja Jobs in Japan schaffen“, sagt Ogura. Deshalb will er seine Baupläne an Kleinbetriebe in ganz Japan verteilen und die Meguru dezentral produzieren lassen. Nur bestimmte Komponenten wie die Batterien sollen gemeinsam bezogen werden. Jeder Kunde kann sich dann lokal seine individuelle Elektrorikscha anfertigen lassen. Das sei ein ungewöhnliches Experiment, gesteht Ogura. Aber Neues zu probieren sei für einen Erfinder eben das Normalste von der Welt.