Mit rekordverdächtigen 275 Grad Öchsle haben die Fellbacher Weingärtner einen besonders stark konzentrierten Eiswein in der Kälte gelesen.

Rems-Murr: Sascha Sauer (sas)

Fellbach - Wie kleine Geister schweben die Atemwolken in der Luft. Rund 30 Menschen stehen in dicken Jacken eingemummelt auf dem Parkplatz vor der neuen Kelter. Fellbach ist in Dunkelheit und Kälte gehüllt. Thomas Seibold steigt auf eine umgedrehte Weinkiste: „Schön, dass Sie die einmalige Atmosphäre der Eisweinlese dem warmen Bett vorziehen“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Fellbacher Weingärtner.

 

Es ist 7 Uhr, der Quecksilberstrich des Thermometers steht bei minus 18 Grad Celsius. Die Hände der Helfer stecken in Handschuhen. „Ob es überhaupt so viele Trauben wie Leute gibt?“, fragt sich Erhard Hess, der frühere Chef der Fellbacher Weingärtner. Auch Oberbürgermeister Christoph Palm hält einen Eimer in der Hand. „Bei der Eisweinlese dabei zu sein, ist Ehrensache“, sagt der OB.

Zur ersten Eisweinlese in Fellbach sind die Weingärtner im Jahr 1971 ausgerückt. Lange Zeit hatte man geglaubt, dass es in der Nacht am kältesten ist. Ein Irrtum. „Zwischen 7 und 8 Uhr morgens geht die Temperatur noch mal runter“, sagt Gert Seibold, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Fellbacher Weingärtner.

Dem Sonnenaufgang entgegen

Von der neuen Kelter geht’s zu Fuß zu den Spätburgunder-Trauben in der Lage Goldberg. Die Helfer laufen dem Sonnenaufgang entgegen. Wie eine zweite Haut legt sich die Kälte auf das Gesicht. „Das ist gut für den Teint, da braucht man keine Schminke“, sagt Thomas Seibold spaßhaft. An so kalte Temperaturen bei der Eisweinlese kann sich der Vorstandsvorsitzende nicht erinnern. „Ich schätze wir knacken heute unseren Hausrekord, der bei 207 Grad Öchsle liegt.“ In dieser Einheit wird das Mostgewicht von Trauben angegeben.

Im Weinberg füllen sich schnell die Eimer. Die behandschuhten Hände greifen auch immer wieder in die blauen Netze, die im Herbst zum Schutz vor hungrigen Vögeln über die Trauben gespannt wurden. Auch Erhard Hess fischt Beeren aus den Netzen. „Da ist doch viel mehr da, als ich zuvor dachte“, sagt er. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende war auch bei der ersten Eisweinlese im Jahr 1971 dabei. „Aber so kalt wie heute war es bestimmt noch nie.“ Zur Demonstration erntet er eine gefrorene Traube vom Rebstock. Der Stil bricht wie Glas.

Die Stadt erwacht. In immer mehr Häusern brennt Licht hinter den Fenstern. Ein neuer Tag im Februar beginnt. Thomas Seibold kann sich nicht daran erinnern, jemals so spät den Eiswein gelesen zu haben. „Ich schätze wir sind am heutigen Samstag die letzten in Württemberg – vielleicht sogar die letzten in Deutschland“, sagt er.

Eiswein kann erst bei Temperaturen von mindestens minus 7 Grad Celsius gelesen werden. „Da hat man aber nur einen Schmalspur-Eiswein“, sagt Thomas Seibold, der sich über die eisigen Temperaturen freut. Denn je kälter es ist, desto mehr gefriert der Saft in den Beeren – und damit sind Aroma, Extrakt, Zucker und Säuren stärker konzentriert.

Weinkönigin mit Wollmütze

Auch die Württembergische Weinkönigin füllt Eimer mit Beeren. Statt einer Krone trägt Petra Hammer an diesem Morgen eine Wollmütze. Zwei Paar Handschuhe hat sie übereinander angezogen. „Damit ist leider die Koordination der Fingerspitzen eingeschränkt“, sagt sie. Die Eimer mit den Beeren, die quasi gefrorene Rosinen sind, werden in Zuber gefüllt. Diese werden mit dem Traktor zur kleinen Presse gefahren, die extra schon am Vortag vor der neuen Kelter aufgebaut wurde.

Dort sieht der Vorstandsvorsitzende dann auch das Ergebnis der Messungen: Gepresst ergeben die Spätburgunder-Trauben etwa 120 Liter Most und haben einen Zuckergehalt von 275 Grad Öchsle. Damit steht eines sofort fest: Dieser Wein hat den höchsten Öchslewert, der je von den Fellbacher Weingärtnern gemessen wurde. „Ich gehe davon aus, dass wir mit diesem Wert sogar den Rekord im Ländle haben“, sagt Thomas Seibold. In Baden und Württemberg gab es in diesem Jahr so gut wie keinen Eiswein. Weil es im Dezember und im Januar vergleichsweise warm war, wollten die meisten Winzer nicht warten. Sie holten die Trauben vom Stock, bevor sie zu Eiswein hätten werden können.