Eine Wohnung bezogen zu haben, gehört für zwei junge Syrer mit Bleiberecht zu den glücklichsten Momenten des vergangenen Jahres. Dort kann nun in Ruhe Deutsch gelernt und musiziert werden.

Leinfelden-Echterdingen - Große Hoffnungen, große Sorgen – M-Nour Darwish kennt zur Genüge das eine wie das andere. Am Jahresende überwog im nervenzehrenden Auf und Ab jedoch eindeutig die Erleichterung: Seit November 2015 steht sein Name zusammen mit dem eines Freundes am Klingelschild einer kleinen Wohnung. Eigene vier Wände – das bedeutet für den 27-Jährigen Raum für Rückzug, Ruhe, Neubeginn.

 

Ein Jahr zuvor, im November 2014, war der junge Mann in Oberaichen angekommen. Hinter ihm lag damals eine gut zweijährige Odyssee, die ihren Ausgang in seiner Heimatstadt im Zentrum Syriens genommen hatte. Nach dem Abschluss seines Studiums der Wirtschaftswissenschaften sollte sich Darwish bei der Armee einfinden, was ihm nur einen Ausweg offen ließ: Er suchte Unterschlupf jenseits der Grenze. „Ich wollte nicht töten müssen“, erklärt er entschieden.

Zu Fuß quer durch Mazedonien

Von seinem türkischen Versteck aus glaubte er innerhalb weniger Monate wieder heimkehren zu können, doch die Realität sah anders aus. Bomben legten syrische Städte in Schutt und Asche – und zerstörten die Zukunft im Land. Weiterziehen hieß plötzlich die Devise. M-Nour Darwish setzte nach Griechenland über und schlug sich zu Fuß 350 Kilometer lang quer durch Mazedonien, bevor er irgendwann Deutschland erreichte.

Die Eltern waren zurückgeblieben, sie wollten lieber zu Hause sterben, wie sie ihren Kindern sagten. Wenigstens die jungen Leute aber sollten sich in Sicherheit bringen. An zurückgelassenes Hab und Gut dachte dabei niemand, sein wichtigstes „Gepäckstück“ habe in die Hosentasche gepasst, sagt M-Nour und holt sein Handy hervor. Mit ihm ließ sich nicht nur das Heimweh bekämpfen, sondern per GPS auch die Marschroute bestimmen. Das Ziel stand klar vor Augen: Mit Deutschland verbinde er Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit, sagt der junge Mann.

Neun Monate Warten auf das Bleiberecht

In Oberaichen lernte M-Nour Darwish ein paar weitere Begriffe kennen: „Mülltrennung“ etwa, vor allem aber auch „Warten“ und „Geduld“. Das Dreivierteljahr bis zum Eintreffen des ersehnten Bleiberechts im August 2015 habe er in einer Art Lähmung überstanden; es sei sehr schwer, untätig auf engstem Raum mit fremden Menschen auszuharren und nahezu unmöglich, unter diesen angespannten Verhältnissen Deutsch zu lernen, so seine Erfahrung. Wie ein Befreiungsschlag wirkte schließlich die Aufenthaltsgenehmigung.

Deutsche Präpositionen machten ihm zwar immer noch schwer zu schaffen, wie er lachend erklärt. Doch sobald der Sprachkurs abgeschlossen ist, gibt es für ihn nur eines: „Ich will arbeiten und nicht auf das Jobcenter angewiesen sein“. Sie seien dankbar für jede Unterstützung, ergänzt auch sein Mitbewohner, aber der Grund ihrer Flucht sei nicht das Geld gewesen, sondern allein der Krieg. „Syrien ist ein schönes Land“, betonen die beiden Geflüchteten, „wir hatten dort unsere Heimat, unser Leben – alles, nur keinen Frieden.“

Die eigenen vier Wände sind ein Riesenglück

Ihre eigenen vier Wände empfinden die Freunde als Riesenglück. „Ohne Wohnung keine Arbeit“, sind sich die beiden bewusst, „ohne Arbeit keine Wohnung.“ Endlich kann Darwish auch seine Leidenschaft wieder intensiver pflegen: das Musizieren. Bereits als Kind machte ihn sein Vater mit der Oud vertraut, einer orientalischen Laute, sein Onkel lehrte ihn Geige spielen. Seit ihm eine Echterdinger Bürgerin ihre Violine überlassen hat, zeigte der junge Mann sein Können schon bei verschiedenen Gelegenheiten wie etwa beim Abschlussfest der „Lesezeit L.-E.“. Seine Befürchtung, die gefühlvoll-orientalische Musik finde hierzulande wenig Gefallen, widerlegte erst kürzlich ein Zuhörer: Der Mann hatte nach Darwishs Spiel von einer Gänsehaut berichtet, wie der Musiker strahlend erzählt. „Die deutschen Leute sind sehr nett“, sagt der junge Syrer – jedenfalls die meisten. Und die anderen? „Diese Personen vergesse ich.“

Serie
Alle Jahre wieder stellt die Redaktion der Filder-Zeitung in dieser Serie ganz unterschiedliche Menschen vor, die in den zurückliegenden zwölf Monaten etwas Besonderes – sei es in positivem oder negativem Sinn – erlebt haben.