Nach Sturz und Ermordung des libyschen Staatschefs Gaddafi ist das Land in verschiedene Machtblöcke verteilt. Deshalb scheitern hier auch Flüchtlingsabkommen.

Tripolis - Diese Woche redete UN-Vermittler Martin Kobler erneut allen Beteiligten in Libyen ins Gewissen. Der „Islamische Staat“ sei der Feind Nummer eins, erklärte der deutsche Diplomat, der Kampf gegen IS „muss ein libyscher Kampf und ein gemeinsamer Kampf sein“. Doch davon ist das zerrissene Land nach wie vor weit entfernt. Drei Regierungen streiten um die Macht. Rund 6000 Jihadisten haben eine eigene IS-Enklave errichtet. Obendrein warten 500.000 Menschen auf eine Überfahrt nach Europa.

 

Zentralbank und Ölverwaltung akzeptieren den Ministerpräsidenten

Seit zwei Jahren existiert in Libyen keine zentrale Regierung mehr. In monatelangen Gesprächen vermittelten die Vereinten Nationen eine Regierung der Nationalen Einheit (GNA), die Ende März mit Ministerpräsident Fayez al-Sarraj an der Spitze in Tripolis auf der Marinebasis Abu Sittah Quartier bezog. Seitdem mühen sich der gelernte Architekt und sein Kabinett, das Ruder in dem Bürgerkriegsland unter Kontrolle zu bekommen und die beiden bisherigen Teilregierungen in Tripolis und Tobruk zum Aufgeben zu zwingen. Als wichtigsten Erfolg konnte der 56-Jährige verbuchen, dass die finanzmächtigen Chefs von Zentralbank, Nationaler Ölverwaltung und zentraler Investitionsbehörde ihm die Loyalität erklärten. Diese drei Institutionen haben Zugriff auf alle Staatsfinanzen. Sie zahlen die Gehälter sämtlicher Milizen und der noch verbliebenen Beamten – und spielen daher im Poker um die künftige Kontrolle des nordafrikanischen Mittelmeerstaates eine entscheidende Rolle.

Wertvolle Rückendeckung erhielt Fayez al-Sarraj auch von einer Reihe von Kommunen im Westteil Libyens sowie den Milizen aus Misrata. Auch die meisten Ministerien in Tripolis sind inzwischen in den Händen der Einheitsregierung – seit wenigen Tagen auch das Außenministerium.

Wohnviertel in Trümmer

Für die Bevölkerung hat der Bürgerkrieg schwere Schäden angerichtet. 40 Prozent der Schulen sind zerstört. Viele Universitäten sind geschlossen, die meisten Krankenhäuser haben kaum noch Medikamente. Strom gibt es nur noch stundenweise. In Städten wie Benghazi liegen ganze Wohnviertel in Trümmern. Die Ölproduktion, einst die wichtigste Einnahmequelle des Staates, schrumpfte von einst 1,5 Millionen auf unter 300 000 Barrel pro Tag. Von den sechs Millionen Libyern halten sich derzeit mindestens eine Million im Ausland auf, die meisten in Tunesien, zehntausende auch in Ägypten.

Um die Gaddafi-Geburtsstadt Sirte herum kontrolliert der „Islamische Staat“ mit 6000 Kämpfern einen 300 Kilometer langen Küstenstreifen. Die Stadt verfügt über einen Flughafen und einen Seehafen, die die Extremisten für Angriffe auf Europa nutzen könnten. In den letzten Tagen gelang es bewaffneten Milizen unter dem Oberbefehl der Regierung der Nationalen Einheit (GNA) in Tripolis, entlang der Küstenstraße zwei wichtige Orte zurückzuerobern. Eine ausländische Intervention dagegen lehnt die libysche Seite kategorisch ab. Darum will die internationale Staatengemeinschaft, um die loyalen Streitkräfte im Kampf gegen den IS zu stärken, für sie das seit 2011 geltende Waffenembargo aufheben. GNA-Premierminister Fayez al-Sarraj fordert vor allem Jagdbomber, Kampfhubschrauber und Piloten, anders sei der IS nicht zu besiegen.

Grenztruppe und Küstenwache desolat

Im Osten des Landes operiert zudem die so genannte Libysche Nationalarmee unter dem Kommando von General Khalifa Haftar, der von Ägypten unterstützt wird. Zwischen seinen Streitkräften und den übrigen Milizen gibt es bisher keinerlei militärische Koordination.

Die libyschen Schleuserbanden hoffen nach dem Ende der Balkanroute wieder auf das große Geschäft mit der Flucht über das Mittelmeer. Sie agieren völlig ungehindert, weil die libyschen Grenztruppen und die libysche Küstenwache in einem desolaten Zustand sind. Die europäischen Regierungschefs würden am liebsten sofort mit Tripolis einen ähnlichen Vertrag über die Rückführung von Flüchtlingen schließen wie im März mit Ankara. Doch dazu müsste die Zentralregierung erst einmal im ganzen Land die Zügel in die Hand bekommen. Und so klang selbst UN-Diplomat Martin Kobler, sonst immer ein eingefleischter Optimist, dieser Tage ziemlich resigniert. „Dass dieses Jahr sehr viel mehr Migranten über Libyen nach Europa kommen, lässt sich nicht mehr ändern“, sagte er in einem Interview. „Solange es hier keine funktionierende Regierung gibt, kann niemand diesem Problem wirksam begegnen.“