Der evangelische Stadtdekan Søren Schwesig kümmert sich um mehrere Gambier, die im Schlauchboot über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind. Ursprünglich waren es fünf gewesen, jetzt sind es nur noch vier.

Stuttgart -

 

An Ostern auf Sizilien ist Stuttgarts Stadtdekan Søren Schwesig den fünf Gambiern zum ersten Mal begegnet. Als Bootsflüchtlinge waren sie an der Küste Italiens gestrandet. In einem Altenheim auf Sizilien haben sich die jungen Afrikaner mit Schwesigs Tochter Ruth angefreundet. „Ich habe meine Tochter bei ihrem Auslandspraktikum besucht, die Männer kennengelernt und an dem Tag meiner Abreise erfahren, dass ihr Asylantrag in Italien abgelehnt worden ist.“ Søren Schwesig reiste zurück nach Stuttgart, den fünf Flüchtlingen aber ließ er seine Handynummer und eine Botschaft da: „Wenn ihr es bis Stuttgart schafft, helfe ich euch.“

Kinteh Saikou, Lamin Jallow, Amadou Sanyang, Kamo Jallow und Musa Keita haben ihn beim Wort genommen. Gut gelaunt, lässig in Jeans und Sweatshirt gekleidet, sitzen vier von ihnen an diesem Montagnachmittag im Büro von Stadtdekan Schwesig im Hospitalhof. Musa Keita ist nicht dabei, er wurde abgeschoben. Die Gambier sagen Dad zum Stadtdekan oder einfach Schwesig, weil es in Gambia üblich ist, sich mit dem Nachnamen anzusprechen. Der evangelische Geistliche ist für die jungen Muslime in den vergangenen Monaten zum Vater geworden, das Büro mit der hüfthohen Figur von Martin Luther zu einer sicheren Zufluchtsstätte. „Ich will in Stuttgart bleiben und eine Arbeit finden“, sagt Kinteh Saikou. Alle wollen bleiben, alle wollen tun, was Søren Schwesig ihnen rät. Das ist es, was die vier Afrikaner an diesem Nachmittag vermitteln.

In Gambia kann ein Gefängnisaufenthalt tödlich sein

Das Schicksal hat es nicht immer gut mit ihnen gemeint. Alle sind aus ihrer Heimat Gambia geflohen. Kinteh Saikou und Amadou Sanyang, weil sie sich mit schwulen Männern angefreundet hatten, ohne selbst homosexuell zu sein – in dem westafrikanischen Staat Grund genug, sein Leben zu verwirken. Kamo Jallow war unterstellt worden, einen Waldbrand gelegt zu haben, und Lamin Jallow in den Verdacht geraten, eine staatliche Firma um Geld betrogen zu haben. Lamin Jallow hatte von seinem zwölften Lebensjahr an in der Firma gearbeitet, er versichert, dass er sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. „Ich weiß nicht, was mein Vorgesetzter mit dem Geld gemacht hat“, sagt der 23-Jährige. Was er aber wusste, war etwas anderes: In Gambia angeklagt zu werden, kann heißen, ins Gefängnis zu kommen und nie wieder heraus. Lamin Jallow ist geflohen, zurückgelassen hat er seine Frau und seine kleine Tochter. „Wissen Sie, in Gambia hat immer die Regierung recht“, sagt Amadou Sanyang, der 19-Jährige, der in Gambia studieren wollte und jetzt alle Hoffnungen auf Deutschland setzt. „Germany is good, people are friendly“, sagt Sanyang, Deutschland sei gut. Und: Deutschland ist ein Rechtsstaat.

Die Fluchtgeschichten der Männer gleichen sich und sind im Detail doch verschieden. Fast alle schlugen sich zuerst nach Senegal durch, um dann enttäuscht weiterzuziehen. Alle sind nach Libyen weitergewandert, weil sie gehört hatten, dort gebe es Arbeit. Die gab es zwar, aber eben auch bewaffnete Banden, für die die Eingewanderten ein gefundenes Fressen waren. „Sie haben dir die Waffe hingehalten und gesagt, gib mir Geld, sonst bringen wir dich um“, erzählt Sanyang. Der 19-Jährige aber hat genau wie die anderen einen Menschen gefunden, der ihm half und der ihm den Weg wies auf ein Schlauchboot im Mittelmeer. Mehr als hundert junge Männer waren zusammengepfercht wie Vieh auf einem Boot, das von Libyens Küste ablegte. „Die Libyer haben zu uns gesagt, folgt dem Mond und dann immer geradeaus“, erzählt Lamin Jallow.

Im Schlauboot auf dem Meer ums Leben gefürchtet

Vier Tage und vier Nächte zitterten die jungen Männer auf dem Schlauchboot mit dem schwachen Motor, das schon nach kurzer Zeit auf einer Seite Luft verlor. Die Gambier schauten mit an, wie Männer über Bord gingen. Keiner machte Anstalten zu helfen. „Entweder du überlebst oder der andere. Jeder denkt nur noch an sich“, sagt Lamin Jallow düster. Der gläubige Muslim hat gebetet, bei Tag und bei Nacht, gebetet und um sein Leben gefürchtet. Irgendwann sahen die Männer Licht und wussten nicht, ob sie wieder auf Afrika zusteuerten oder auf Europa – bis die italienische Küstenwache sie aus dem Mittelmeer fischte. Die Polizisten waren freundlich zu den erschöpften Männern, der italienische Staat war es nicht. Nach acht Monaten wurden die Asylanträge abgelehnt und die Gambier aufgefordert, Italien zu verlassen.

Kaum Chancen, in Deutschland Aysl zu bekommen

Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden, die fünf aber haben überlebt. Søren Schwesig ist ins Auffanglager nach Karlsruhe gereist, kaum dass sich die Gambier bei ihm gemeldet haben. Er gab ihnen Geld und die Hoffnung auf ein Wiedersehen in Stuttgart. Inzwischen leben Kinteh Saikou, Kamo Jallow, Amadou Sanyang und Lamin Jallow auf demselben Flur in einer Flüchtlingsunterkunft in Zuffenhausen, alle vier besuchen ein Berufsvorbereitungsjahr, wollen einen Schulabschluss machen und anschließend eine Lehre zum Altenpfleger. Amadou Sanyang möchte irgendwann einmal Informatik studieren.

Dabei haben die Gambier kaum Chancen, als Asylbewerber in Deutschland anerkannt zu werden, da sie über ein sicheres Drittland eingereist sind. Sie können nur darauf setzen, aus humanitären Gründen geduldet zu werden. „Wir haben eine Beziehung, die sehr auf Hoffnung ausgerichtet ist“, sagt Søren Schwesig, der die Männer zur Ausländerbehörde begleitet, der schaut, dass sie in der Schule zurechtkommen und der sie einmal die Woche zu sich ins Büro einlädt und alle paar Wochen zu seiner Familie nach Hause. Der evangelische Stadtdekan hilft den Afrikanern, aber er erwartet auch, dass sie ihren Beitrag leisten. Dass sie pünktlich zum Termin im Ausländeramt erscheinen und dass sie den zusätzlich organisierten Deutschkurs auch wahrnehmen. „Ich sage den Jungs, ihr habt das Mittelmeer überlebt. Wenn Gott euch die Möglichkeit gegeben hat, ein neues Leben zu beginnen, dann müsst ihr damit auch etwas anfangen“, erzählt der Dekan.

Schwesigs Vater ist ein Kriegsflüchtling gewesen

Die Abschiebung von Musa Keita konnte Søren Schwesig nicht verhindern. Mitten in der Nacht ist der Geistliche zur Unterkunft gefahren, dann zur Polizei in die Hahnemannstraße. Zu Keita in die Zelle durfte er nicht, aber immerhin konnte er ihm über einen Polizisten noch Geld zustecken. Der Gambier ist in Rom gelandet, wohin sein Weg ihn weiter führen wird, weiß niemand. Schwesig jedenfalls will die Hoffnung nicht aufgeben. „Mein Vater war selbst Kriegsflüchtling, er ist mit dem letzten Zug raus aus Königsberg“, erzählt der 52-Jährige. Später musste der Vater als Theologe die DDR verlassen. Diese Familiengeschichte habe ihn dazu gebracht, Verantwortung für fünf Flüchtlinge zu übernehmen. „Die Jungs geben mir viel.“